Allmende statt Open Everything – Wie neue Konzepte der Offenheit gedacht werden können

  • Silke Helfrich

Silke Helfrich, am 10. November 2021 tödlich verunglückt, war nicht nur Zentralfigur zahlreicher allmende-bezogener Initiativen weltweit und Chronistin der Commons-Bewegung, sondern als politische Person stets für alle Seiten ansprechbar und mit ganzem Herzen engagiert. Unzählige Menschen hat sie dazu inspiriert, Wissen als Gemeingut zu denken und zu behandeln, um den größtmöglichen Nutzen für alle zu erreichen. Als kluge und leidenschaftliche Vordenkerin einer fairen, freien und lebendigen sozialen Praxis wird sie schmerzlich fehlen; ihr Werk bleibt.

Lilli Iliev & John Weitzmann im Namen von Wikimedia Deutschland e. V.

Ein Essay von Silke Helfrich

„Offenheit“ sagt sich leicht dahin und ist doch kein Leichtes. In Vertrauensräumen ist es relativ einfach, offen zu sein und etwas freizugeben. Menschen fürchten dann nicht, über den Tisch gezogen zu werden. Sie vertrauen darauf, dass das, was sie freigeben, von anderen auch sinnvoll genutzt wird. Wie etwas offengehalten – im Sinne von frei zugänglich – wird, bestimmt oft die Technik. Der Riegel eines Gartentors lässt sich schnell beiseiteschieben. Ein Schloss erschwert die Sache, die Einzäunung mit Klingendraht macht die Nutzung des Gartens durch Dritte fast unmöglich.

Ähnlich wie in der analogen Welt wird auch im Digitalen der Zugang zu Inhalten auf technologischen und rechtlichen Wegen geregelt und durchgesetzt (Stichworte: Kopierschutz, Urheberrecht). Etwas zu öffnen, gar alles zu öffnen (Open Everything), ist genau genommen eine besondere Form eines solchen Reglements. Regeln wiederum sind ein wichtiger Begriff in der Allmende. Das Wort Allmende stammt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet ursprünglich: allen in der Gemeinde abwechselnd zukommend. Diesen Anspruch einzulösen, bedarf seit jeher
vielfältiger und differenzierter Regeln.

Jenseits von »offen vs. geschlossen«

Seit es so einfach ist, Inhalte über das Internet sofort und überall verfügbar zu machen, wird leider wenig differenziert. Von »Offenheit« ist geradezu leichtfertig die Rede. Dabei wird oft übersehen, dass diese Kategorie einen bestimmten Denkrahmen aktiviert: »offen oder geschlossen«. So wie »schwarz oder weiß«, »ganz oder gar nicht«, »Mann oder Frau« – es wird hier Zweiheit und Gegensatz beschrieben, wo Vielfalt und Zusammenhang sind. Das aktiviert zuverlässig unseren Entweder-oder-Denkmodus; wir kennen das Phänomen zum Beispiel aus Debatten über territoriale Grenzen – »auf oder zu«.

Das Problem ist: Wenn wir lediglich die beiden Extreme eines riesigen Spektrums möglicher Zugangsregeln benennen, verengen wir unseren Blick. Das gilt sowohl für die analoge als auch für die digitale Welt. In letzterer entsteht »offener« Zugang zu einem Werk, wenn selbiger nicht per Urheberrecht oder Bezahlschranke eingeschränkt wird. Die entsprechenden Geschäftsmodelle werden als »proprietär« bezeichnet. Die Regelung der Zugangsrechte beruht hier grundsätzlich auf einer Idee des Ausschlusses, was dazu führt, dass künstlich verknappt wird, wo im Grunde mehr entstehen kann, wenn wir es teilen. Die Verknappung wiederum setzt voraus, dass wir Wissen und Ideen zum Eigentum machen und das wiederum ist Voraussetzung dafür, Inhalte und Informationen als Waren zu behandeln wie alle anderen – zum Beispiel Turnschuhe, Fahrräder oder Brötchen. Es ist richtig, sich gegen diese eigentümlichen Verknappungen und Kommodifizierungen zu wehren. Aber es ist unklug, das im Entweder-oder-Modus zu tun.

Peer-Openess: differenzierte Regeln nach Nutzungsform

Open Everything für alle und für jedweden Zweck kommt — so die These — letztlich einer Erlaubnis zur individuellen Aneignung bzw. Re-Privatisierung gleich. So können sich große Unternehmen an der Software- und Wissensallmende bedienen und diese in die eigenen Verwertungsketten einspeisen. Wer Marktmacht hat, wird dadurch strukturell bevorteilt. Um das zu verhindern, ist Differenzierung wichtig. Die Wissensallmende könnte beispielsweise für manche Zwecke und Nutzergruppen frei zur Verfügung gestellt werden, für andere nicht. Wir können von denen, die nichts zur Wissensallmende beitragen, Geld für die Nutzung verlangen. Die Eigenart schöpferischer Prozesse und die soziale Dynamik, durch die Werke entstehen, sollten zudem in den Zugangs- und Nutzungsregeln sichtbar bleiben. Das erfordert sensible Aushandlungsprozesse und einen wachen Blick fürs Detail.

In der Begeisterung für »Open Everything« geraten aber gerade die Details tendenziell in den Hintergrund. Wenn eine Datenbank in »bürgerwissenschaftlicher« Arbeit aufgebaut wird oder Foto-Fans ihre Bilder »einfach so« online stellen, wollen sie möglicherweise nicht direkt dazu beitragen, dass sich das Machtgefälle noch weiter zugunsten der Marktmächtigen verschiebt. Im Gegenteil, sie wollen zum Gemeinsamen beitragen. Deshalb brauchen wir Zugangs- und Nutzungsrechte, die es uns erleichtern, die Wissensallmende als Commons zu schützen.

Creative-Commons-Lizenzen – für mittlerweile mehr als 1,6 Milliarden Werke – bieten Urheberrechtsinhaber*innen einfache und standardisierte Optionen an, vorab ihre Erlaubnis zur Weitergabe und Nutzung ihrer Werke zu erteilen. Nur einige der CC-Lizenzen schützen dabei das Werk als Commons. Andere beruhen auf der Idee der weitgehend bedingungslosen Freigabe für jedweden Zweck. Das hat – genau wie die Sorglosigkeit im Umgang mit Open Everything – dazu beigetragen, dass viele Menschen meinen, Commons seien allgemein und prinzipiell »offen«.Die Zugangsregel »offen« wird auf diese Weise mit der Nutzungsregel »frei« im Sinne von kostenlos verwechselt – so als ginge es darum, dass sich alle an allem bedingungs- und kostenlos bedienen könnten. Dem ist nicht so. Sinn und Zweck eines Commons ist es, gemeinsam verantwortete Verfügung zu sichern und die Vorteile für alle Beteiligten zu maximieren. Das erfordert durchdachte und situationsspezifische Zugangs- und Nutzungsregeln.

Zugangsfragen nie ohne Bereitstellungsfragen denken: share & steward

Wenn wir kollektive Handlungsmöglichkeiten erweitern, künstliche Verknappungen beenden und die ohnehin schon übermächtigen Akteure nicht noch zusätzlich aus der Allmende nähren wollen, reicht die Verteidigung der Offenheit nicht aus. Wir müssen deshalb den dualistischen Denkrahmen »offen vs. geschlossen« aufgeben und uns neue Konzepte überlegen. Peer Openness etwa: „Ist das ein peer-offenes Dokument?“, fragte mich kürzlich ein Kollege. „Nein, es wurde an Elsevier abgetreten und der Verlag wird deine Peers zur Kasse bitten.“

Darüber hinaus hilft der schlichte Gedanke, Zugangsfragen nie losgelöst von Bereitstellungsfragen zu denken: „Wie kommen Inhalte und Werke eigentlich in die Welt?“ Statt nur über das„freie Weitergeben“ zu reden, müssen wir im Blick behalten, dass Wissen auch geschöpft und bewahrt werden muss. Auf dieses auch kommt es an. Das Eine (das Weitergeben) lässt sich ohne das Andere (das Schöpfen und Bewahren) nicht sinnvoll regeln. Und wenn wir beides regeln, sollte die Ausrichtung immer sein: Wissen und Inhalte dem Markt zu entziehen und als Allmende (Commons) zu behandeln. Nur so entsteht wirklich für alle der größte Nutzen.

Weitere Infos:

Silke Helfrich

Silke Helfrich war eine der bedeutendsten Vordenkerinnen und Forscherinnen zu Gemeingütern und Commons. Sie leitete Regionalbüros der Heinrich-Böll-Stiftung für Zentralamerika, Karibik und Mexiko und war Mitbegründerin des Commons-Institut e. V. und der Commons Strategies Group. Als freie Autorin, Aktivistin, Forscherin, Bloggerin und Rednerin hat sie unzählige Menschen dazu inspiriert, Wissen als Gemeingut zu denken und zu behandeln.