Ein Unterschied wie Tag und Nacht – Warum Gleichstellung geschlechtersensible Sprache braucht

  • Anatol Stefanowitsch

Ein Essay.

Eines der vier Grundprinzipien der Wikipedia ist der „Neutrale Standpunkt“: Artikel sollen ihr Thema „weder mit abwertendem noch mit sympathisierendem Unterton“ aus einer „neutralen Sicht“ darstellen. Für eine Enzyklopädie ist das ein unverzichtbares Prinzip, auch wenn es in der Realität nur schwer umzusetzen ist – die seitenlangen hitzigen Diskussionen zu vielen Artikeln, die in traditionellen Redaktionen sicher ebenso geführt werden, zeigen das. Aber was, wenn die Sprache selbst keinen neutralen Standpunkt bietet?

“Die Sprachen, die wir heute sprechen, sind historisch gewachsen und die Standpunkte vergangener Gesellschaften sind tief in ihrem Wortschatz und ihrer Grammatik verankert.”

Anatol Stefanowitsch

Der traditionelle Sprachgebrauch – so selbstverständlich er uns durch die Macht der Gewohnheit sein mag – ist deshalb häufig nicht neutral, sondern vom abwertenden oder sympathisierenden Unterton dieser Gesellschaften geprägt. Nirgendwo wird das so deutlich wie beim Bezug auf Personen. Wie in vielen anderen Sprachen sind im Deutschen fast alle Personenbezeichnungen gegendert: Sie existieren in einer männlichen und in einer weiblichen Variante – geschlechtsneutrale Bezeichnungen gibt es im traditionellen Sprachgebrauch nur in Ausnahmefällen. Bezeichnungen, die Kategorien außerhalb des Männlichen und Weiblichen einschließen, gibt es gar nicht.

Das stellt uns zum einen vor Probleme, wenn es darum geht, geschlechtlich gemischte Gruppen oder abstrakte Kategorien von Personen zu bezeichnen. Zum anderen macht es den Bezug auf Menschen, die sich in den Kategorien „männlich“ und „weiblich“ nicht wiederfinden, fast unmöglich.

Gesellschaftliche Normalfälle und die goldene Regel

Für den Bezug auf geschlechtlich gemischte Gruppen oder abstrakte Kategorien von Personen bietet der traditionelle Sprachgebrauch eine einfache Lösung: Man verwende einfach männliche Formen und verlasse sich darauf, dass Frauen (und andere, dazu später mehr) sich schon irgendwie mitgemeint fühlen werden. In Texten – vor allem auch in enzyklopädischen – findet sich diese scheinbare Lösung immer noch mit großer Selbstverständlichkeit.

Es ist aber nur eine scheinbare Lösung, denn sie spiegelt eben einen Standpunkt wider, der alles andere als neutral ist: dass nämlich Männer der gesellschaftliche Normalfall und Frauen eine Art Nachgedanke sind. Das entspricht zwar sehr genau den Wertvorstellungen vergangener Gesellschaften, aber sicher nicht der unseren.

Wie wenig akzeptabel dieses Vorgehen ist, zeigt sich jedes Mal, wenn ein Text es umgekehrt versucht: Als die Universität Leipzig 2013 ihre Satzung überarbeitete und dabei alle (generisch intendierten) männlichen durch (generisch intendierte) weibliche Personenbezeichnungen ersetzte, gab es einen Sturm der Entrüstung in den klassischen ebenso wie in den sozialen Medien. Und als das Justizministerium 2020 in einem Gesetzesentwurf ebenso verfuhr, sah sich der Innenminister höchstpersönlich in der Pflicht, in das Verfahren einzugreifen und den männlichen Normalfall wiederherzustellen.

Wenn es nun aber für Männer nicht zumutbar ist, sich in der Satzung einer Universität, die die meisten von ihnen nie besucht haben, oder in einem Gesetzesentwurf, den die meisten von ihnen nie lesen werden, als Nachgedanke zu einem weiblichen Normalfall wiederzufinden, können sie es gemäß der goldenen Regel umgekehrt auch den Frauen nicht zumuten.

Paradoxe Oberbegriffe und Zusatzaufwand fürs Gehirn

Daran ändern auch die Versuche mancher sprachwissenschaftlicher Kolleginnen und Kollegen nichts, das Maskulinum zu einer „neutralen“ Form umzudefinieren. Das funktioniert schon auf der sprachsystemischen Ebene nicht. Begründet wird die vermeintliche Neutralität des Maskulinums häufig mit der sogenannten Markiertheitstheorie. Die Wörter _Tag_ und _Nacht_ sind hierfür ein gutes Beispiel: Das Wort _Tag_ kann, in einen Gegensatz zu _Nacht_ gestellt, den „Zeitraum zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang“ bezeichnen („Heute ist der kürzeste Tag des Jahres“), oder es kann sich auf eine „Zeitspanne von 24 Stunden“ beziehen (wenn ich sage: „Sie hat seit drei Tagen Fieber“ umfasst das auch die Nächte) und ist dann, paradoxerweise, Oberbegriff von _Tag_ und _Nacht_.

Genauso, argumentieren manche meiner Kollegen, sei es auch mit männlichen und weiblichen Personenbezeichnungen: ein Wort wie _Redakteur_ bezeichne entweder, im Gegensatz zur _Redakteurin_, einen Mann, der die entsprechende Tätigkeit ausübt, oder, als Oberbegriff von _Redakteur_ und _Redakteurin_, eine geschlechtlich nicht näher spezifizierte Person, die dies tut. Selbst, wenn diese Analyse stimmen sollte (und daran darf man zweifeln), ändert sie nichts am Kern des Problems. Der Grund, warum wir das Wort _Tag_ als Oberbegriff für _Tag und Nacht_ gewählt haben, und nicht das Wort _Nacht_, ist ja, dass der Tag für uns der Normalfall ist. Hier spielt sich der überwiegende Teil des gesellschaftlichen Lebens ab, während wir nachts doch meistens schlafen.


Es braucht aber gar keine sprachsystemischen Analysen, um zu realisieren, dass das generische Maskulinum nicht neutraler oder gerechter ist, als es ein generisches Femininum wäre: Psychologinnen und Psychologen untersuchen die Interpretation dieser Form seit zwanzig Jahren im Labor und haben wieder und wieder gezeigt, dass das Maskulinum, ganz egal, wie es im Einzelfall gemeint sein mag, von deutschsprachigen Menschen zunächst männlich interpretiert wird – und dass eine generische Interpretation einen Zusatzaufwand bedeutet, den unser Gehirn nicht immer auf sich nimmt.

Ein neutraler Sprachgebrauch erfordert also mindestens, den männlichen Personenbezeichnungen die weiblichen zur Seite zu stellen. Das mag einen Text etwas länger machen, aber für die größere sprachliche Präzision und die neutrale Darstellung der Welt können wir das wohl in Kauf nehmen.

Doppelform, Unterstrich, Gendersternchen

Damit ist aber noch nicht berücksichtigt, dass es Personen gibt, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht in den Kategorien „Mann“ und „Frau“ wiederfinden. Ich schreibe hier bewusst „aus welchen Gründen auch immer“, weil die Diskussion um sprachliche Neutralität an dieser Stelle häufig in eine Diskussion darüber umschlägt, ob es neben dem (oder außerhalb des) Männlichen und Weiblichen überhaupt geschlechtsrelevante Kategorien geben kann.

Wenn wir sie mit „Nein“ beantworten, könnten wir bei Doppelformen wie _Redakteur und Redakteurin_ bleiben. Wenn wir sie mit „Ja“ beantworten, müssen wir zu neuen Formen wie dem Gendersternchen oder dem Unterstrich greifen. In beiden Fällen beziehen wir eine Position, die uns selbstverständlich zusteht, für deren Konsequenzen wir dann aber auch die Verantwortung übernehmen müssen.

Neutral ist keine dieser Positionen, wobei das Bestehen auf einer Zweigeschlechtlichkeit zumindest durch die wissenschaftlich unstrittige Existenz von intersexuellen Personen sicher die weniger gut begründbare ist. Wer um Neutralität bemüht ist, muss auf die wenigen Möglichkeiten geschlechtsneutraler Personenbezeichnungen ausweichen, die das Deutsche uns bietet. Das sind vor allem Partizipien im Plural, mit denen wir durchaus kreativer umgehen können als der traditionelle Sprachgebrauch uns Glauben macht – statt _Redakteure und Redakteur*innen_ oder _Redakteur*innen_ können wir etwa _in der Redaktion Tätige_ sagen.

Länger als _Redakteur und Redakteurin_ ist das auch nicht. Aber neutraler ist es auf jeden Fall.

Weitere Infos

Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Sprachwissenschaftler. Er studierte an der Universität Hamburg Anglistik, Linguistik und Sprachlehrforschung und wurde 2001 an der Rice University promoviert. Er arbeitet am Institut für Englische Philologie und Interdisziplinäres Zentrum Europäische Sprachen der Freien Universität Berlin. Sein Buch Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen. ist 2018 erschienen.