Zwischen Teilhabe und Democrisis

  • Michael Seemann

Ein Interview mit Michael Seemann

Wir erleben allerorten bröckelndes Vertrauen – in demokratische Institutionen, traditionelle Medien, auch in die Wissenschaft. Woran liegt das?

Ein Teil des Problems ist, dass wir generell die lauten Stimmen amplifizieren, überhaupt die Meinungen, die vom Mainstream abweichen. Wenn jemand behauptet, die Erde sei gar nicht rund, sondern eine Scheibe, findet das erst mal Beachtung: Interessant, was könnte die Begründung dafür sein? Das rührt aus dem Selbstverständnis der aufgeklärten Gesellschaften, erst einmal alles zuzulassen, was den gängigen Vorstellungen von Welt zuwiderläuft. Und es ist auch richtig, Outsidern Gehör zu schenken, die Geschichte ist voller Beispiele: Galileo Galilei oder Martin Luthers berühmte Aussage: „Ich stehe hier und kann nicht anders.“ Im Internet stößt dieses Selbstverständnis von Gesellschaft nun auf eine mediale Infrastruktur, die allen die Möglichkeit gibt, gehört zu werden – zumindest potenziell. Die Annahme ist, dass sich auf diesem Marktplatz der Ideen die Wahrheit als beste aller möglichen Informationen durchsetzt, sich behauptet gegen Verschwörungstheorie und Fake News. Aber so funktioniert das nicht.

Was geschieht stattdessen?

Diejenigen, die abweichende Meinungen propagieren, sammeln Anhängerinnen und Anhänger. So generieren alternative Wahrheiten ihre Publika, ihre Digital Tribes. Es gibt nicht mehr die eine Öffentlichkeit, in der diese oder jene Auffassung von Wahrheit diskutiert wird. Sondern es gibt zunächst die alternative Wahrheit. Und darum herum formiert sich eine Öffentlichkeit. Diese Mechanismen beginnen wir gerade erst zu verstehen. Daraus folgt nicht, dass es keinen Mainstream oder kein Vertrauen in Institutionen mehr gibt. Aber es existieren jetzt sehr sichtbare Alternativen dazu.

Wo hat das Netz Räume für demokratische Teilhabe geschaffen?

Wenn man Demokratie als die Gewalt versteht, die beim Volke liegt, dann ist genau diese Amplifizierung von allem und jedem eine Demokratisierung. So haben wir es auch in der frühen Netzbewegung begriffen. Die Effekte, die wir dabei erleben, mögen uns nicht gefallen. Aber das bedeutet nicht, dass der Vorgang nicht demokratisch wäre. Das Netz hat viele Dinge besser gemacht. Es hat den doch sehr homogenen medialen Diskurs aufgebrochen, dafür gesorgt, dass neue Stimmen, neue Themen auf die Agenda gesetzt wurden. Ganz deutlich kann man das sehen, wo es etwa um Fragen von Diskriminierung geht: #MeToo, #Aufschrei, Black Lives Matter – da werden Ereignisse verhandelt, die zuvor in den Medien eher am Rande eine Rolle gespielt haben. Um das Hashtag gruppiert sich ein Tribe oder ein Kollektiv, das ein bestimmtes Thema zum organisationsleitenden Informationsfragment erhebt.

Führt diese Tribalisierung zu einer zunehmenden Spaltung von Gesellschaft?

Dafür müsste zuvor eine geeinte Gesellschaft existiert haben, und diesem Narrativ misstraue ich.
Das Bild, das wir von der Gesellschaft haben, ist ja vorwiegend ein massenmedial vermitteltes. Und das sieht natürlich sehr homogen aus, weil es in Redaktionen von ebenfalls homogenen Teams entworfen wird, die alles ausblenden, was sie nicht interessiert. Sicherlich waren bestimmte gesellschaftliche Konflikte früher weniger sichtbar. Und sicherlich entstehen auch Verstärkereffekte von Abgrenzungsbewegungen dadurch, dass bestimmte Themen nun eine Repräsentanz innerhalb der gesellschaftlichen Debatte bekommen. Das führt aber nicht zur Spaltung, sondern eher zu einer Fragmentierung von Öffentlichkeiten.

Was können Communitys im Netz leisten, wenn es um die demokratisierte Wahrheit geht?

Projekte wie die Wikipedia haben sich als sehr robust gegenüber diesen Fragmentierungsbewegungen gezeigt. Natürlich erleben wir auch erbitterte Streits und Edit Wars innerhalb der Wikipedia, sicherlich gibt es Anhängerschaften alternativer Wahrheiten, die sich dort repräsentiert sehen wollen. Dennoch hat sich die Wikipedia gegen solche Vereinnahmungsversuche zu behaupten gewusst. Der Neutral Point of View, der als Paradigma in der Community eingeführt und akzeptiert ist, gestattet es zwar, verschiedene Sichtweisen auf ein Thema nebeneinanderzustellen. Aber am Ende mündet das Ergebnis meistens doch in eine Konsenswahrheit. Damit ähnelt die Wikipedia dem demokratischen Staat, der ja auch auf Debatte, Diskurs, Polarisierung oder Fragmentierung ausgerichtet ist – der Diskurs soll ja verschiedene Sichtweisen integrieren. Gleichzeitig zwingt einen der Staat schlussendlich dazu, als Kollektiv eine gemeinsame Richtung einzuschlagen.

Wie lässt sich das Vertrauen in Institutionen stärken?

Ein Vertrauen in Institutionen – und auch die Wikipedia ist eine Institution – kann stabilisiert werden, wenn sich dort transparente Diskurse abspielen. Wichtig ist, dass vertrauenswürdige Prozesse etabliert werden, die offen sind, die ihre Checks and Balances eingebaut haben und verschiedene Perspektiven integrieren. Demokratie ist Legitimation durch Vertrauen in Prozesse. Wir haben in den USA beobachten können, was geschieht, wenn ein großer Teil der Bevölkerung plötzlich beginnt, dem System zu misstrauen, in diesem Fall dem Wahlsystem. Das ist ein Problem. Man kann ja nicht beweisen, dass keine Manipulation stattgefunden hat. Man kann auch nicht die Nichtexistenz von Gott beweisen. Wenn es so weit ist, dass die Verdächtigen ausreichen, um das System zu beschädigen, dann greift, was Niklas Luhmann gesagt hat: Nicht nur das Vertrauen ist eine Komplexitätsreduktion, auch das Misstrauen.

Werden Netz-Communitys in Zukunft das, was die Institutionen waren – oder bürdet man ihnen damit zu viel auf?

Wir stehen noch relativ am Anfang der Umwälzungen, die Digitalität mit sich bringen wird. Deswegen ist es schwer vorherzusagen, wie Institutionen und wie Communitys in Zukunft aussehen werden. Einerseits beobachten wir Kollektive oder Digital Tribes als eine Form von gesellschaftlicher Organisation im Internet. Auf der anderen Seite erweisen sich Plattformen mit schon governance-artigen Strukturen als sehr erfolgreich. Der Konflikt um die Löschung von Trumps Twitter-Account wird rückblickend interessant auszuwerten sein für die Diskussion um De-Platforming. Wir beobachten neue Fragmentierungen, Rechte ziehen um zu alternativen Netzwerken, es findet eine neue Segmentierung entlang von Plattformgrenzen statt. Auch diese Entwicklung wird spannend zu beobachten sein.

Weitere Infos:

Michael Seemann

Michael Seemann studierte Angewandte Kulturwissenschaft in Lüneburg und promovierte 2021 in den Medienwissenschaften an der Universität Tübingen. Anfang 2010 begann er das Blog CTRL-Verlust zuerst bei der FAZ, seit September auf eigene Faust, in dem er über den Verlust der Kontrolle über die Daten im Internet schreibt. Sein zweites Buch, Die Macht der Plattformen, erschien 2021. Er produziert den Podcast Planet B – Ideen für den Neuanfang.