»Was ist zeitgemäße Bildung in einer hochkomplexen Welt?»

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Die Bundesregierung will eine Nationale Bildungsplattform (NBP) mit digitalen Lernangeboten für alle schaffen. Wikimedia Deutschland hat das Projekt 2022 genau unter die Lupe genommen. Heike Gleibs, Leiterin Bildung, Wissenschaft und Kultur bei WMDE, erläutert die zentralen Erkenntnisse.

Hat die Nationale Bildungsplattform Konstruktionsfehler?

Heike Gleibs: Prinzipiell ist es gut und richtig, dass die öffentliche Hand in digitale Infrastrukturen wie die Bildungsplattform investiert, für die bis 2025 immerhin 630 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Aber man hätte sich über die Konzeption und Funktionalitäten mehr Gedanken machen müssen. Ein Problem dieses Projekts ist, dass es zu großen Teilen auf vorhandenen technologischen Lösungen basiert, ohne dass zuvor gefragt wurde, welche Probleme – oder zu erwartende Probleme – von Lernen und Bildung im 21. Jahrhundert mit der NBP gelöst werden sollen. Sind Features wie eine Wallet für Zertifikate und Nachweise über Lernabschlüsse wirklich das, was gebraucht wird? Brauchen Lernende und Lehrende vielleicht andere Plattformen wie eine öffentliche Bürger*innen-Cloud, in der zum Beispiel digitale Produkte aufbewahrt werden können, die an Schulen entstehen?

Wikimedia Deutschland hat die Studie »Werte und Strukturen für die Nationale Bildungsplattform« in Auftrag gegeben – mit welchem Ziel?

Der Auftrag ging an ein Team von Forschenden unterschiedlicher Disziplinen und Perspektiven: an den Plattform-Theoretiker Michael Seemann, den Software-Entwickler und Aktivisten Jürgen Geuter sowie Felicitas Macgilchrist und Chris­toph Richter aus der Bildungswissenschaft. Wir wollten technologisches mit bildungswissenschaftlichem Know-how zusammenbringen. Denn eine unserer Grundannahmen für die Studie ist, dass digitale Infrastrukturen nicht neutral sind, sondern immer Voraussetzungen für die pädagogische Praxis schaffen. Zu Beginn der Entwicklung digitaler Bildungsinfrastrukturen müsste die Frage lauten: Wie sieht zeitgemäßes Lernen heute aus, wie in zehn, zwanzig Jahren – und welche digitale Infrastruktur brauche ich dafür?

Welche zentralen Erkenntnisse kann man aus der Studie ziehen, die 2022 auch auf einem Panel mit Politikschaffenden und Expert*innen aus dem Bildungsbereich diskutiert wurde?

Ein Punkt ist, dass es in der Entwicklung der NBP bisher kaum ein Zusammenspiel von bildungswissenschaftlichen, lerntheoretischen und technischen Entwicklungen gibt. Zentral ist außerdem die Frage: Was ist beim Aufbau von Plattformen zu bedenken, besonders in einem Bildungskontext? Und damit verbunden: Wer wird später dafür Verantwortung übernehmen und die Plattform betreiben, welche Regeln müssen wir setzen, welche Mindeststandards sollen sowohl für Prototypen als auch für Projekte gelten? All diese Governance-Fragen waren nicht beantwortet, als wir die Studie initiiert haben.

Welches Verständnis von Lernen steht hinter dieser Nationalen Bildungsplattform?

Laut unserer Studie verstehen wir in ihr ein instrumentelles Verständnis von Lernen. Also Lernen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, um Arbeitsmarkttauglichkeit zu erlangen. In unseren Augen wird sehr auf Kompetenzen gezielt, die man sich aneignen soll, um später im Beruf seine Leistung zu erbringen. Das ist also ein sehr zielorientiertes, auch marktorientiertes Verständnis von Bildung. Im Kontext der Plattform wird auch immer wieder von Bildungsangeboten gesprochen, die sich die Lernenden suchen. Was in diesem Rahmen keinen Platz hat, ist eine gewisse Ziellosigkeit im besten Sinne, ein prozesshaftes Lernverständnis, das sich auch erst im Lernen konstituiert.

Was hätte gewonnen werden können, hätte es die Aushandlungen mit zivilgesellschaftlich Aktiven wie Wikimedia im Vorfeld gegeben?

Klarer definierte Vorstellungen von Problemen aus der Perspektive von Nutzenden – und ebenso klare, informierte Ideen für passende Lösungen. Zusammen mit den unterschiedlichsten Gruppen – Eltern, Schüler*innen, Lehrkräfte, alle möglichen lehrenden und lernenden Menschen – hätte man sich auch der größeren gesellschaftlichen Frage stellen können: Welche Vision von Lernen und Bildung im 21. Jahrhundert haben wir? Was ist zeitgemäße Bildung in einer hochkomplexen Welt? Diese Aushandlungsprozesse fanden nie statt, sondern es wurden bildungstheoretische Normen gesetzt. Dazu haben wir uns bereits frühzeitig als Wikimedia positioniert.

Welche Einflussmöglichkeiten bleiben der Zivilgesellschaft?

Die Governance-Strukturen stehen nach wie vor zur Verhandlung. Es gibt zudem zwei Evaluationsvorhaben, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert, hier bietet sich die Gelegenheit, auf die Einbindung von zivilgesellschaftlichen Akteuren hinzuwirken. Ebenso lässt sich darauf Einfluss nehmen, dass die Nationale Bildungsplattform enger mit der OER-Strategie der Regierung zusammengedacht wird, die offene und freie Bildungsinhalte und die Entwicklung digitaler Bildung fördern will. Open Educational Ressources (OER) und Open Educational Practices (OEP) sollten von Anfang an konzeptionell mitgedacht und die solide Auffindbarkeit freier Inhalte durch die Nationale Bildungsplattform ermöglicht werden.

Was sind positive Aspekte der Bildungsplattform?

Prinzipiell ist die Schaffung einer Nationalen Bildungsplattform eine gute Idee. Was sich hervorheben lässt: dass dahinter ein Openness-Gedanke wirkt. Die Software ist Open Source, alle Lösungen müssen Open Source entwickelt sein. Auch die Anerkennung von OER als eine wichtige Komponente von Bildungsangeboten wird prinzipiell mitgedacht im Rahmen der Nationalen Bildungsplattform. Das sind positive Aspekte im Sinne unseres Einsatzes bei Wikimedia.