Wissensgerechtigkeit: 3 Fragen an Susanne Führer

Redaktionsleiterin „Diskurs“ bei Deutschlandfunk Kultur

Inwieweit kann die Zusammenarbeit zwischen Wikimedia und Deutschlandfunk Kultur für beide Seiten bereichernd sein?

Der Themenkomplex „Wissen. Macht. Gerechtigkeit.“ passt sehr gut zu uns. Deutschlandradio lässt stets ein Jahresthema von Hörer*innen unter dem Titel „Denkfabrik“ wählen, mit dem sich dann alle Programme und Sendungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln 12 Monate lang beschäftigen – eines hieß zuletzt: „Dekolonisiert euch!“ Daran hingen bereits Fragen nach Zugängen, Repräsentanz oder Gleichbehandlung, die wir jetzt in der Veranstaltungsreihe mit Wikimedia vertiefen.

Die Kooperation ist für beide Seiten ein Gewinn. Wikimedia besitzt auf diesem Gebiet eine besondere inhaltliche Expertise, die unsere sehr gut ergänzt. Hinzu kommt unsere journalistische Expertise, die Moderation, eine Sendung. Wir können Themen so präsentieren, dass sie auch für Menschen andockfähig werden, die sich noch nicht tiefer damit auseinandergesetzt haben.

Welche Diskussionen über den freien Zugang zu Wissen sollten Ihrer Ansicht nach intensiver geführt werden?

Generell beschäftigt mich die Frage: Was gilt als relevantes Wissen? Das interessiert mich auch unter dem Gesichtspunkt der Barrierefreiheit. Wie können wir, ganz praktisch, Zugangsschwellen zu Wissen senken? Einerseits kommt dabei die Problematik des Klassismus ins Spiel. Ein Beispiel: Wenn jemand rasch wissen möchte, was eigentlich ein Virus ist und in der Wikipedia nachliest, wird sie oder er den Beitrag im Zweifelsfall nicht verstehen. Der ist für studierte Menschen geschrieben – nicht für die Mehrheit und schon gar nicht für diejenigen, die vielleicht Erklärungen in einfacher Sprache benötigen.

Zum anderen sollten wir diskutieren: Ist Wissen auch Erfahrung? Die Erfahrungen, die etwa Menschen mit Behinderung machen, wenn sie sich durch die Stadt bewegen, sind andere, als ich sie mache. Natürlich gibt es eigene Portale für Menschen mit Behinderung. Aber wäre es nicht wichtig, dass wir alle in die Lage versetzt werden, zumindest zu versuchen, andere Perspektiven einzunehmen?

Überlegen Sie in Ihrer Redaktion auch, wie sich ein diverseres Publikum erreichen ließe?

Diese Frage spielt bei uns im gesamten Haus eine Rolle. Es gibt immer wieder Initiativen, vor allem auch die Mitarbeiterschaft diverser aufzustellen. Der deutsche Journalismus ist trotz aller Veränderungen, die es auch gibt, nach wie vor stark von weißen, studierten Akademiker*innen geprägt, die schon mit „Zeit“ und „Tagesschau“ aufgewachsen sind. Ähnlich wie Wikipedia also.

Menschen etwa mit Migrationsgeschichten sind noch immer unterrepräsentiert. Genau so bemerke ich, dass ostdeutsche Biografien und Perspektiven zu wenig Sichtbarkeit haben. Wenn es zum Beispiel heißt, dass in Deutschland bis in die 1970er-Jahre Frauen ihren Ehemann um Erlaubnis bitten mussten, wenn sie arbeiten gehen wollten, stimmt das nicht. Das gilt nur für die Bundesrepublik Deutschland, nicht für die DDR. Wir sehen die Welt immer durch die eigene Brille – wichtig ist aber, sich klar zu machen, wie viele verschiedene Brillen es gibt.