Wissensgerechtigkeit

Eines von zwei strategischen Zielen des Wikimedia Movements ist es, „Wissensgerechtigkeit“ zu schaffen. Aber wie lässt sich dieser Begriff mit Leben füllen? Eine Antwort darauf hat 2021 unter anderem die neue Diskussionsreihe „Wissen. Macht. Gerechtigkeit.“ gegeben, die Wikimedia Deutschland in Kooperation mit Deutschlandfunk Kultur veranstaltet. Auch in der Wikipedia soll unterrepräsentiertes Wissen noch sichtbarer werden.

„Wir arbeiten schon lange daran, Wikimedias Einsatz für ein freies Netz, an dem alle teilhaben und ihr Wissen teilen können, mit bestehenden gesellschaftspolitischen Diskursen zu verbinden“, so Lilli Iliev, Leiterin Politik & öffentlicher Sektor bei Wikimedia Deutschland.

Aus diesem Grund hat Wikimedia 2014 die Salonreihe „Das ABC des Freien Wissens“ ins Leben gerufen, in der Akteur*innen aus den Bereichen Politik, Kultur, Journalismus und Netzaktivismus zusammengekommen sind, um Themen aus dem Wikimedia-Spektrum zu diskutieren. Nicht selten ergaben sich daraus weitere Kooperationen – oft mit Organisationen und Initiativen, die neue Andockpunkte an das Feld „Freies Wissen“ für sich entdeckt hatten.

Seit Juli 2021 existiert nun eine Diskursreihe, die den Salon-Gedanken fortschreibt: „Wissen. Macht. Gerechtigkeit.“. Iliev hat dafür eine Kooperation mit Deutschlandfunk Kultur angebahnt – was den Ausgaben, die auch als Podcast zur Verfügung stehen, „eine noch größere Reichweite verspricht“. Der Fokus liegt auf Fragen nach der (Neu)Verteilung von Wissen in der vernetzten Gesellschaft, nach der ungleichen Repräsentation von Frauen, BIPoC und anderen marginalisierten Gruppen in Politik, Medien – und nicht zuletzt in der Wikipedia.

Postkoloniale Herausforderungen

Desinformation im Wahlkampf war eines der Themen der drei Veranstaltungen, die 2021 bereits stattgefunden haben. Auch daran hängen Fragen von Macht – Informationsmacht nämlich. „Wie können öffentliche digitale Kommunikationsräume so gestaltet werden, dass die Gefahr von Desinformationen gemindert und gleichzeitig die Meinungsfreiheit geschützt wird?“, beschreibt Iliev die Herausforderung.

Eine andere Ausgabe widmete sich dem „postkolonialen Museum“. Ebenfalls ein Feld, auf dem sich Wikimedia engagiert. Das Anliegen ist, unterrepräsentiertes Wissen in Zusammenarbeit mit Museen, Archiven und Bibliotheken zu identifizieren und sichtbarer zu machen. In Zusammenarbeit mit Kurator*innen erschließen Ehrenamtliche die Datensätze für die Wikipedia und ihre Schwesterprojekte – freilich unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes.

Ein Beispiel ist die Sammlung Karl Schmidt-Rottluff des Berliner Brücke-Museums, die in digitalisierter Form auf Wikimedia Commons veröffentlicht – und gleichzeitig kritisch aufgearbeitet werden soll. Schließlich stammen die rund 100 Skulpturen und Objekte aus kolonialen Zusammenhängen.

Dimensionen der Gerechtigkeit

Auch mit dem „GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig“ kooperiert Wikimedia, um dessen Transformationsprozess „Reinventing GRASSI“ zu unterstützen. In dessen Zuge werden die eigenen ethnologischen Sammlungen auf ihre Erwerbs- und Ausstellungsgeschichte hin durchleuchtet. Iliev betont, dass bei der Digitalisierung „Herkunftsgesellschaften nicht übergangen werden dürfen“.

So wichtig die digitale Öffnung der Kulturerbe-Institutionen sei, um überhaupt Transparenz zu schaffen, welche Objekte sich in ihrem jeweiligen Besitz befinden – so sensibel müsse der Prozess verlaufen: „Welche Wege gibt es, Transparenz und Zugänglichkeit für und mit Herkunftsgesellschaften herzustellen, und wie können kulturelle Objekte digital so beschrieben werden, dass sie die verschiedenen Kontexte ihrer Identität nachhaltig abbilden?“ Wikimedia hat dazu drei Forderungen an die Politik erhoben – unter anderem die Schaffung und Förderung von Räumen, in denen dekolonial gearbeitet werden kann.

„Bei Digitalisierungsfragen gibt es immer eine Gerechtigkeitsdimension, die man diskutieren sollte“, sagt Iliev. Das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit dafür seien jedenfalls gewachsen.

Die Weitung des europäischen Blicks

Natürlich geht es beim Thema „Wissensgerechtigkeit“ auch darum, die Wikipedia und ihre Schwesterprojekte diverser, partizipativer und gleichberechtigter zu gestalten. Vor allem zwei Hürden macht die Leiterin Politik & öffentlicher Sektor auf diesem Weg aus: „Zum einen die enzyklopädische Form, die per se Ausschlüsse produziert, beziehungsweise nur einschließt, was wenige akademisch gebildete Menschen als Wissen definieren.“ Hier gelte es zu überlegen, wie die Wikimedia-Projekte als Infrastruktur auch andere Formen von Wissen abbilden könnten. Etwa in audiovisueller Form.

„Zum anderen lässt sich unser europäischer Begriff von Ehrenamt nicht eins zu eins auf alle Teile der Welt übertragen.“ Schließlich setze er Ressourcen und vor allem Zeit voraus, über die viele nicht verfügten. Umso drängender stellt sich die Frage, wie auch wir uns verändern müssen, „damit die Mitarbeit in den Wikimedia-Projekten für viel mehr Menschen attraktiv wird.“

Ein Weg ist, die Diskussion über Wissensgerechtigkeit nicht abreißen zu lassen, den Kontakt mit Vertreter*innen von Organisationen und der Zivilgesellschaft zu suchen und die eigenen Kreise zu weiten – wie mit der Reihe „Wissen. Macht. Gerechtigkeit.“. Lilli Iliev sieht dafür noch „ein großes Potenzial an Themen“.