Der Wissensdurst der Vielen – Wie Kollaboration Demokratie und Wissensproduktion stärkt
Ein Essay von Mark Terkessidis
Eine „Ära des tyrannischen Individuums“ sei angebrochen, behauptet der französische Modephilosoph Eric Sadin und beschwört zudem einen „Totalitarismus der Multitude“ und den „Verlust des Gemeinsamen“. Diese Art von Diagnosen wurden 2020 in Deutschland durch die Berichterstattung über der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung illustriert. Die Teilnehmenden erschienen als Ansammlung von desorientierten, verantwortungslosen und hauptsächlich von Verschwörungsideologien geleiteten Einzelnen.
Nun kommt es stets darauf an, auf welche Phänomene sich der Blick von Philosophie und Medien richtet. Offenbar erinnert sich niemand mehr daran, wie das „tyrannische Individuum“ noch 2015 ein beispielloses Engagement für das Gemeinwohl zeigte, als der Staat durch die „Flüchtlingskrise“ überfordert erschien. Ebenso wenig wird betont, dass sich der überwiegende Teil der Bevölkerung in einer wiederum beispiellosen Gesundheitskrise durchaus vernünftig verhält.
Wir können auf neue Arten des Aushandelns schauen, auf die Kollaboration zwischen den wütenden und suchenden Individuen
Sicher lässt sich aktuell eine starke Konzentration vieler Individuen auf die eigene Subjektivität und/oder dogmatische Glaubenssätze beobachten. Aber wir müssen selbst den angeblich omnipräsenten Tyrannen und Verwirrten zugestehen, dass es gar nicht leicht ist, sich dieser Tage in der Welt zu orientieren. Das Wissen – so beschrieb es Jean-Francois Lyotard bereits vor 40 Jahren – hat seine selbstverständliche Legitimation verloren, seine Einbettung in „große Erzählungen“. Wie also können wir wissen und das begründen, was wir wissen, um es intersubjektiv überprüfbar machen? Es bleibt nichts übrig, als über die Kategorien und Methoden und relevanten Felder zu verhandeln. Anstatt also nur Verlust und Verstörung zu beobachten, könnten wir auch auf die praktischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte schauen, auf neue Arten des Aushandelns, auf die Kollaboration zwischen den wütenden und suchenden Individuen.
Selbstverständlich ist Wikipedia ein Beispiel für eine neue Form demokratischer Selbstorganisation des Wissens. Der Erfolg der Enzyklopädien und der Konversationslexika ab dem 19. Jahrhundert war eingebettet in den zunehmenden Wissensdurst eines Individuums, das angesichts der „Volksherrschaft“ mehr Entscheidungen treffen musste. Doch den Umfang, die Themen, die Systematik, die Qualität oder auch die Illustration solcher Lexika beschloss ein Rat von Experten. Dass es gelingen konnte, die Autorität dieses kleinen Kreises potenziell durch die Gesamtmenge aller Individuen mit einem Zugang zu Computer und Internet zu ersetzen – und zudem ein tragfähiges Verfahren für die Zusammenarbeit zu finden, erscheint schon fast als unheimlicher Erfolg.
Seit ihrer Entstehung haben die demokratischen Staaten stets Angst vor den Individuen gehabt, die durch „Volksherrschaft“ plötzlich Mitsprache hatten
Zweifellos gab und gibt es auf dem Weg einer solchen Kollaboration der Individuen zahlreiche Probleme und Fallstricke: individuelle Selbstdarstellungen, politische Einflussnahmen, problematische Einschätzungen von Relevanz oder die mangelnde Überprüfbarkeit von Einträgen. Doch diese Schwierigkeiten sind exakt die Schwierigkeiten jedes demokratischen Prozesses, und Kollaboration bedeutet keineswegs, dass dieser Prozess keine Struktur hat. Es handelt sich nicht um ein Verfahren, das jegliche Autorität abschaffen soll, sondern um eines, das die Zirkulation von Autorität und die Verlagerung „nach unten“ ermöglicht. Dabei geht es weder um Perfektion noch um Utopien, sondern um die Realisierung von Zielen. Das erfordert manchmal auch Eingriffe von „Redaktionen“ – genau dann, wenn der Prozess als Ganzes auf dem Spiel steht.
Mehr Kollaboration wagen – das Motto für die 2020er-Jahre
Seit ihrer Entstehung haben die demokratischen Staaten stets Angst vor den Individuen gehabt, die durch die „Volksherrschaft“ plötzlich Mitsprache hatten. Die zunehmende Freiheit wurde daher begleitet von einer monumentalen Offensive zur Disziplinierung des Verhaltens – in Familien, Schulen, Fabriken, Armeen oder Gefängnissen. Seit mindestens einem halben Jahrhundert entspricht diese Verhaltensnormierung jedoch nicht mehr der Art, wie im Westen gearbeitet, gelebt und auch konsumiert wird. Wäre es nicht ein Schutz vor der angeblichen „Tyrannei“ der Individuen, ihnen – wie bei Wikipedia – mehr Autonomie zu geben, sie aber gleichzeitig in kollaborative Prozess einzubeziehen?
Das erfordert allerdings mehr als „Partizipations“-Verfahren, in denen letztlich das absegnet werden soll, was Politik oder Verwaltung vorher beschlossen haben. In der „Flüchtlingskrise“ hat es alle möglichen Formen von Zusammenarbeit gegeben – was hat die Verwaltung daraus gelernt? In den Kommunen, in denen über die Art der Unterbringung von Geflüchteten von vornherein diskutiert wurde, war die Legitimität dieser Unterbringung danach sehr hoch – welche Schlüsse wurden daraus gezogen? Und hätten die „tyrannischen“ Individuen nicht eine bessere Lösung für den Stuttgarter Bahnhof gefunden als die lebensferne Nomenklatura eines privatisierten Staatsunternehmens? „Mehr Demokratie wagen“ hieß einmal ein Leitspruch der 1970er-Jahre. 20 Jahre Wikipedia belegen doch eindrucksvoll, warum „Mehr Kollaboration wagen“ ein ähnliches Motto für die 2020er-Jahre werden könnte.