Echte Menschlichkeit und falsche Ehrfurcht. Ein Interview.
Wie Urheber*innen und Nutzer*innen von Musik auch in der digitalisierten Welt zu ihrem Recht kommen, wird viel und zuweilen heftig diskutiert. Wie nehmen Sie die Rechte-Diskussion in der Klassikszene wahr – und wie stehen Sie dazu?
In der E-Musik-Szene wird – zum Beispiel von der Deutschen Orchestervereinigung als einer von sehr wenigen überhaupt existierenden „Lobbyvertretungen“ – zunehmend gefordert, beispielsweise in Sachen Streaming klassischer Musik die entsprechenden Künstlerinnen und Künstler besser beziehungsweise überhaupt zu vergüten. Die Forderungen verhallen aber regelmäßig im Nichts lächelnder Ratlosigkeit und Uninformiertheit. Von Vergütungsmechanismen, aktuellen Urheberrechtsstreitigkeiten und alternativen Entlohnungsmodellen wissen wir zumeist wenig – bis nichts. Keine Komponistin, kein Komponist der Neuen Musik kann beispielsweise sagen, welche ungefähre Summe von der GEMA nach Aufführung von Werk XY ausgeschüttet wird. Klassik-Streaming-Anbieter wie IDAGIO sind auf der anderen Seite von hohen Sponsoring-Geldern abhängig, um nicht nur Musikerinnen und Musiker besser zu vergüten, sondern um den „Gegenstand klassische Musik“ entsprechend ordnend und vermittelnd zu kuratieren. Eine Mammutaufgabe.
„Klassik lacht nicht“ – mit dieser Schlagzeile wurde vielfach über Ihr satirisches Video zu Daniel Hope berichtet. Warum tut sich die Szene mit kreativer, auch humorvoller Auseinandersetzung und Kunstformen im Netz schwer?
Die Institutionen der „Welt der klassischen Musik“ sind nicht nur humorbefreit, sondern halten krampfhaft von alten weißen Männern erdachte feudale Strukturen am Leben, in denen Sexismus, sexuelle Übergriffe, Mobbing und pekuniäre Ungleichheit akzeptiert werden, solange die entsprechenden „Stars“ die Konzertsäle füllen – und sich auf Fotos an der Seite der (fast immer männlichen) Konzerthaus-Chefs präsentieren. Das Duckmäusertum kennt in der E-Musik – die von ganz wenigen Labels dominiert wird – keine Grenzen. Paradigmatisch wird der „Opus Klassik“ seit Jahren im Konzerthaus am Gendarmenmarkt von Thomas Gottschalk an Daniel Hope in der Kategorie „Klassik ohne Grenzen“ vergeben. Eine humorvolle Auseinandersetzung mit dem eigenen Gegenstand findet im Netz so gut wie gar nicht statt. Der digitale Raum ist für die angsthäsigen PR-Protagonistinnen und -Protagonisten der E-Musik-Welt bestenfalls „Diener“ – und darf Saison-Mottos, Klassik-Star-Galas und Brahms-Schwerpunkte bebildern.

Was müsste sich strukturell ändern?
Die Kommunikation klassischer Musikinhalte müsste aufrichtiger sein, die gemachte Gelecktheit der stetigen Präsentation „unserer“ Musik wegfallen, zugunsten authentischen Sprechens über Musik – Schwäche, Fragilität und Ängste eingestehend. Tatsächlich gilt in unserer hochglanzverwahrlosten Szene nämlich das Streben nach Perfektion noch als tugendhafte Kategorie. Gute Musikvermittlung beispielsweise ist möglich, wenn wir „Menschlichkeit“ in Bezug auf Musik nicht nur an Beethovens plärrender Umarmung seiner Neunten festmachen, sondern auf das schauen, was vielleicht einmal nicht funktioniert – und was dabei möglicherweise als haarsträubend lustig und menschlich rezipiert werden kann.
Das Paradigma der Offenheit, des kollaborativen Arbeitens, Teilens und Tauschens kommt zunehmend in den Wissenschaften an – auch in der Musikwissenschaft?
Noch vor einigen Jahren betrat man als Musikwissenschaftlerin oder Musikwissenschaftler demütig staubmäusige Archive und Bibliotheken, um sich den Gesamtausgaben großer Komponisten (bewusst nicht gegendert) im stillen Studium zu widmen. Inzwischen sind die kritischen Editionen zu Teilen ins Netz gewandert und können niedrigschwellig verwendet werden, wie beispielsweise „Bach digital“.
Doch Millionen von klassischen Musikerinnen und Musiker tummeln sich vor allem auf einem Portal, über das – bis zu einem Artikel von mir aus dem Jahr 2017 – kaum jemand etwas wusste: IMSLP (International Music Score Library Project). Ungefähr eine halbe Million Notendateien sind hier kostenlos – mit einer Wartezeit von 15 Sekunden, sofern kein Premium-Account vorhanden – abrufbar. Dabei handelt es sich um inzwischen rechtefreie Noten-Ausgaben, also um solche, die möglicherweise in Teilen ein romantisches Bild von Bach und Co. vermitteln. Der Aspekt des Teilens und des kollaborativen Arbeitens ist dabei kein in der Musikwissenschaft sonderlich pioniergeistig bestelltes Feld.
Woran liegt das? Und fallen Ihnen Gegenmodelle ein, die Vorbild sein könnten?
Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten aus dem Bereich der Musikwissenschaft entstehen selten gemeinschaftlich. Solange ernsthaft Kompositionsprofessoren noch (inzwischen wenigstens hinter meist vorgehaltener Hand) behaupten, Frauen könnten nicht komponieren, solange werden auch Begrifflichkeiten wie „Meisterwerk“ und „Schöpfung“ (gemeint ist nicht die von Joseph Haydn) als latente Postulate musikwissenschaftlichen Arbeitens verbleiben. Entsprechend nichtig sieht es mit der Förderung kollaborativen Arbeitens und Musizierens aus. Immerhin haben sich – auf jedes Jahr neu zu beantragende Fördergelder angewiesene – Klangkörper wie das Solistenensemble Kaleidoskop seit mittlerweile fünfzehn Jahren auf die Fahnen geschrieben, den innerlich wie äußerlich verbeamteten Orchesterstrukturen eine kollaborative, offene, kreative Arbeitsweise entgegenzusetzen.
Weitere Infos:
- Webseite Arno Lücker
- „Musik mit Abstand“ Arno Lücker und hat Beethovens „Für Elise“ kurzerhand umgeschrieben – mit mindestens einer großen Terz Abstand zwischen allen Tönen
- Beitrag #nofilter? (2018) „Um Licht ins Dunkel der Diskussion um Urheberrechte, Upload-Filter und Künstlertantiemen zu bringen, hat Arno Lücker sich mit Lilli Iliev und Micki Meuser getroffen.“