Mehr Diversität wagen

  • Ferda Ataman

Ein Interview

Welche Perspektiven fehlen Ihnen in der Wikipedia? Wo macht sich konkret bemerkbar, dass es mehr Diversität bräuchte?

Ein Beispiel, das ich bemerkenswert finde: Der enzyklopädische Eintrag zum „Hauskaninchen“ ist vier Mal so lang wie der zum Begriff „Gastarbeiter“. Ich würde behaupten, dass die sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter für die deutsche Gesellschaft doch mehr Bedeutung haben. Daran merkt man aber, wie die Kräfteverhältnisse und Interessen bei den Wikipedianerinnen und Wikipedianern liegen. Die Kompetenz rund um das Thema Einwanderungsland und Einwanderungsgesellschaft scheint mir sehr einseitig ausgeprägt zu sein. Es gibt auch viele bekannte Personen of Colour, die keinen biografischen Eintrag in der Wikipedia haben. Ein Youtube-Star wie Rezo ist zu finden, einen Tarik Tesfu sucht man vergebens, obwohl er mittlerweile schon eine Sendung beim NDR moderiert. Davon gibt es viele Beispiele.

Die Wikipedia reklamiert für sich einen neutralen Standpunkt. Kann es Neutralität in einem solchen Wissensprojekt überhaupt geben?

Es ist ja generell so, dass Menschen sich selbst gern eine neutrale Sicht auf die Dinge zuschreiben, aber abweichende Perspektiven für ideologisch beeinflusst halten. Die Kritik, die man an Wikipedia äußern kann, lässt sich auch auf die klassischen Enzyklopädien anwenden: Wer entscheidet, was enzyklopädische Relevanz besitzt, wie es beschrieben ist, ob gegendert wird? Unsere Enzyklopädien sind traditionell weiß, männlich und eurozentristisch geprägt. Auch im Journalismus gab es in Politik und Wirtschaft bis vor wenigen Jahrzehnten fast nur weiße Männer, die das Sagen hatten, warum sollte das bei Nachschlagewerken anders sein? Bei Wikipedia hat man aber eine andere Erwartung, weil das Projekt Offenheit verspricht. Es will eine Enzyklopädie von allen für alle sein. Das scheint nicht zu funktionieren. Theoretisch darf natürlich jede und jeder mitschreiben, aber gerade Menschen mit einem sehr rassismuskritischen Blick oder Feministinnen machen die Erfahrung, dass ihre Beiträge von der Community abgelehnt werden und ihre Perspektive somit keinen Platz hat.

„In meinem Wikipedia-Eintrag heißt es: Ferda Ataman wurde in Stuttgart geboren und wuchs in Nürnberg auf. Ihre Eltern stammen aus der Türkei.“

Ferda Ataman

Generationen sind mit einem Wissenskanon erzogen worden, der beispielsweise postkoloniale Perspektiven komplett ausgeblendet hat. In der Schule wurde ihnen beigebracht, Kolumbus habe „Amerika entdeckt“ – was heute zu Recht als imperiale Lesart von Geschichte gilt. Kann eine Enzyklopädie Prozesse eines lebenslangen Lernens abbilden?

Wikipedia bildet diese Prozesse noch am besten ab. Schon dadurch, dass den Artikeln längenmäßig keine Grenzen gesetzt sind, ist es möglich, verschiedene Standpunkte und auch Kontroversen zu beschreiben – wofür sich ja viele Beispiele finden, gerade auch jetzt in der Corona-Pandemie. Das hätte es früher bei Enzyklopädien nicht gegeben, dort wurde das aufgenommen, was eben Wissensstand war. Leider glückt Wikipedia die Abbildung strittiger Facetten oft nicht bei gesellschaftspolitischen Themen – und speziell nicht in den Bereichen, die Diversität betreffen. 

Am Begriff „Indianer“ zeigt sich, wo Wikipedia steht. In dem Eintrag heißt es zwar: „Indianer ist eine Fremdbezeichnung durch die Kolonialisten“. Den Zusatz hätte es vor 20 Jahren, als das Projekt an den Start gegangen ist, vermutlich noch nicht gegeben. Trotzdem trägt der Eintrag nur den Titel „Indianer“, es ist darin die Rede von der „indianischen Bevölkerung“ und erst im 10. Absatz steht, dass viele so bezeichnete Leute den Begriff ablehnen. Ebenso findet sich eine völlig rassismusunkritische Definition des Begriffs „Blackfacing“. Und ein begrenzter Horizont zeigt sich für meine Begriffe auch daran, wie Biografien gestaltet sind. 

Inwiefern?

Gerade bei Menschen mit Migrationsgeschichte oder solchen, bei denen vermutet wird, sie seien keine Biodeutschen, wird spätestens im zweiten Satz erzählt, woher die Eltern stammen. Auch in Horst Seehofers Eintrag gibt es zwar einen Absatz zu „Herkunft und Familie“, in dem man erfährt, dass sein Vater LKW-Fahrer und seine Mutter Hausfrau war. Aber die Genealogie ist längst nicht so prominent platziert. Als ich diese Kritik öffentlich geäußert habe, hat mir ein empörter Wikipedianer geschrieben, es werde bei allen Menschen gleichermaßen auf die Herkunft verwiesen, das sei doch von öffentlichem Interesse. Meine Beobachtung ist aber eine andere. In meinem eigenen Eintrag heißt es gleich am Anfang: „Ataman wurde 1979 in Stuttgart geboren und wuchs in Nürnberg auf. Ihre Eltern stammen aus der Türkei“. Im Weltbild der Wikipedia gibt es noch immer echte Deutsche – und es gibt Eingewanderte. Ich bin Verfechterin der Auffassung, dass es wurscht ist, wo sich die Vorfahren vermehrt haben.

„Ich bin nicht dafür, dass Frauen nur noch über Feminismus und migrantische Menschen nur über die Einwanderungsgesellschaft schreiben sollten.“

Ferda Ataman

Wenn darüber diskutiert wird, dass zum Beispiel mehr Beteiligung von Menschen mit Migrationsgeschichte an der Wikipedia wünschenswert wäre, kommt schnell auch die Erwartung auf, es gäbe dann mehr Einträge über das türkische Dorf X oder den griechischen See Y – ist das auch wieder eine Verengung auf Herkunft? Oder einfach Spezialwissen?

Zumindest werden Menschen, die aus diesem türkischen Dorf X kommen, einen anderen Blick darauf haben als solche, die nur als Touristinnen oder Touristen vorbeigeschaut oder im Reiseführer darüber gelesen haben. Insofern finde ich es schon wichtig, dass sich Leute einbringen, die persönliche Bezüge oder Lebenserfahrungen zu bestimmten Themen mitbringen. Das macht die Wikipedia ja auch aus. Weder ein Duden noch ein lexikalischer Verlag könnte oder wollte sich solche Expertisen einkaufen. Aber natürlich bedeutet das nicht, dass Frauen nur noch über Feminismus und migrantische Menschen nur über die Einwanderungsgesellschaft schreiben sollten. Es wäre für Wikipedia doch mal ein spannendes Experiment, Menschen mit verschiedener Perspektive zum selben Thema Beiträge verfassen zu lassen – zum Beispiel den Mauerfall aus west- und ostdeutscher Sicht abzubilden. Die Ergebnisse würden garantiert komplett unterschiedlich ausfallen.

Wie könnte man in Ihren Augen diversere Communitys gewinnen?

Das ist eine Herausforderung. Ich bin ja viel damit befasst, wie sich mehr Diversität in den Medien erreichen ließe. Am liebsten wollen die Verantwortlichen hören, sie müssten die Stellenausschreibung nur so oder so gestalten, dann ergäbe sich Diversität von selbst. Aber was es tatsächlich braucht, ist ein Kulturwandel in den Organisationen. Und das ist ein langer Prozess. Ein erster Schritt ist, die Botschaft auszusenden – wir wollen diverser werden. Es ist nicht schwer, Menschen anzusprechen. Aber dann braucht es das Vermögen, andere Perspektiven auch wirklich auszuhalten. Das kann Arbeit bedeuten – lohnt sich aber in jedem Fall.

Weitere Infos:

Ferda Ataman

Ferda Ataman ist Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin. Sie war u.a. Journalistin bei Tagesspiegel und Spiegel Online, leitete die Öffentlichkeitsarbeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und baute den „Mediendienst Integration“ auf, eine Informationsplattform zu den Themen Migration, Integration und Asyl. Ataman ist Vorsitzende des Vereins Neue Deutsche Medienmacher*innen und Mitbegründerin der neuen deutschen organisationen. Für ihre Arbeit erhielt sie 2019 den Julie und August Bebel Preis für innovative und emanzipatorische Beiträge zur Politischen Bildung. Ihr Buch "Hört auf zu fragen, ich bin von hier!" erschien 2019.