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Liquid Lobbying
Im windigen Berlin und im verregneten Brüssel begannen vor rund sieben Jahren eine Reihe von Wikimedia-Aktiven, Fragen zu den gesetzlichen Rahmenbedingungen für Freies Wissen zu stellen. Es entstand ein Netzwerk von ehrenamtlich und hauptberuflich engagierten Menschen. Wie ehrenamtliches Engagement in Brüssel Einfluss auf die Politik gewinnt.
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Eine feste Adresse für Freies Wissen – Wie ehrenamtliches Engagement in Brüssel Einfluss auf die Politik gewinnt
Ein Essay von Dimitar Dimitrov
Ganz am Anfang: die quälenden Fragen
Im windigen Berlin und im verregneten Brüssel begannen vor rund sieben Jahren eine Reihe von Wikimedianerinnen und Wikimedianern, Fragen zu den gesetzlichen Rahmenbedingungen für Freies Wissen zu stellen: Welche staatlichen Werke sollten vom Urheberrechtsschutz ausgenommen werden? Wie könnte eine für Fotografen leicht nachzuvollziehende EU-weite Panoramafreiheit* aussehen? Wie kann der Unternutzung kultureller Werke durch eine „digitalisierungsfreundlichere” Gesetzgebung begegnet werden? Wie schärfen wir das Bewusstsein für Netz-Intermediäre wie Wikipedia, die von verschiedenen Regelungen betroffen sind?
Eine nach Brüssel gesendete Roadmap und ein erstes Big Fat Brussels Meeting brachten die Erkenntnis, dass diese Fragen sowohl national als auch auf europäischer Ebene bearbeitet werden müssen – und zwar dauerhaft. Wie aber sollten wir uns im Irrgarten der Bürokratie zurechtfinden und zugleich mit der Macht der seit Jahrzehnten kontinental organisierten Wirtschaftsinteressen Schritt halten?
Vision “Liquid Lobbying”
Es erschien wenig aussichtsreich, eine politische Interessensvertretung, insbesondere auf EU-Ebene, nur mit Ehrenamtlichen zu betreiben. Prozesse, die sich über Jahre hinziehen, eine Vielzahl relevanter Veranstaltungen, die in der Woche stattfinden – das erfordert enorme zeitliche Ressourcen. Andererseits wäre eine Vertretung aus reinen Brüssel-Profis oder durch eine Consulting-Firma unserer Bewegung und unserer Kultur nicht gerecht geworden. So entschieden wir uns fürs Liquid Lobbying – eine langfristige Kooperation zwischen Wikimedia-Vertreterinnen und -Vertretern in Brüssel, Freiwilligen und nationalen Chapter-Angestellten, um gemeinsam Positionen zu erarbeiten, die in der EU Gehör finden.
Von der Start-up-Mentalität zum etablierten Stakeholder
Bis Ende 2013 hatten wir nur eine Teilzeitstelle, arbeiteten uns an einer Vielzahl wichtiger netzpolitischer EU-Entscheidungen ab (Urheberrecht, DSGVO, Open Data) – und wurden regelmäßig gefragt, wie es denn WikiLeaks-Gründer Julian Assange ginge. Politisch interessierte Wikimedianerinnen und Wikimedianer kannten sich untereinander kaum, und unser Engagement war … sporadisch. Hier eine Aktion gegen Netzsperren, dort, ein Jahr später, eine zu Open Data, gelegentlich die Teilnahme an einer Konsultation. Die größte kontinentale Urheberrechtsreform seit zwei Jahrzehnten stand an – und kaum eine Entscheidungsträgerin oder ein Entscheidungsträger kannte uns.
2020, vor dem Start der nächsten großen netzpolitischen Reform (dem Digital Services Act), gehörten wir bereits zum Kreis jener Gruppen, die vom zuständigen Kommissar zu Gesprächen eingeladen wurden. Inzwischen sind unsere Communitys und Partner in fast allen EU-Ländern mit der nationalen Umsetzung der Urheberrechtsrichtlinie befasst. Zuvor hatten wir schon erreicht, dass gemeinnützige Online-Dienste keine Uploadfilter einsetzen müssen, und dass Digitalisate von gemeinfreien Werken auch gemeinfrei bleiben.Von „Ein Mann, ein Ort” hat sich unsere Struktur zu „Viele, am liebsten immer und überall” gewandelt. Es entstand und entsteht ein Netzwerk von ehrenamtlich und hauptberuflich engagierten Menschen, die Freiem Wissen eine Stimme in gesetzgeberischen Prozessen verleihen.
Der große nächste Schritt: 27 Mal Urheberrecht national
Es ist spannend, zusammen mit zahlreichen nationalen Aktivistinnen und Aktivisten sowie netzpolitischen Vereinen aus vielen Ländern eine EU-Gesetzgebung zu begleiten. Einen solchen Prozess in 27 nationalen Gesetzgebungsverfahren gleichzeitig koordiniert zu beeinflussen, bedeutet noch mal eine ganz andere Herausforderung. Aber genau daran arbeiten wir zusammen mit unseren Partnerinnen und Partnern aus den Dachverbänden Communia und EDRi (European Digital Rights).Im Idealfall funktioniert Liquid Lobbying wie ein Flaschenzug. Mit nur einem Bruchteil der finanziellen Mittel, die etwa Wirtschaftsverbänden zur Verfügung stehen, kann sich die Zivilgesellschaft so aufstellen, dass ihre Stimme in den EU-weiten Gesetzgebungsprozessen Aussagekraft und Einfluss gewinnt. Das ist vor allem den zahlreichen Ehrenamtlichen zu verdanken, die ihre Zeit und Energie in oft mühsame Initiativen stecken.
Die nächste Ebene
Die Interessenvertretungen in Europa teilen sich in zwei Gruppen. Die eine ist nur auf Brüsseler Ebene kampagnenfähig – die andere kann auch in vielen der Mitgliedsstaaten nachhaltig Gesetzgebung verfolgen und dazu Stellungen beziehen. Zur letzteren Gruppe wollen auch wir gehören, entsprechend bauen wir unsere Strukturen aus. Allerdings gibt es – gerade in Bezug auf die nationalen netzpolitischen Communitys – eine klare finanzielle Hürde.
Eine Community, die in ihrem Land ehrenamtlich an einem Projekt wie der Urheberrechtsreform arbeitet, ist vielleicht für rechtliche Beratung, Informationen, Kommunikationsberatung oder kleine Stipendien für eine Broschüre dankbar. Aber wenn sie nachhaltiger arbeiten möchte, stößt sie an Grenzen – und gelangt über Projekthilfe nicht hinaus. Sich durch Spenden oder Mitgliedsbeiträge zu professionalisieren, ist in vielen Ländern keine Option. Wo es aber keine Kernfinanzierung gibt, kann auch keine Struktur wachsen, die sich um die Bürokratie kümmert, während die Ehrenamtlichen sich auf die inhaltliche Arbeit fokussieren. Das führt nicht selten zu Demotivation. Liquid Lobbying kann nur langfristig wirken. Deswegen werden wir in den kommenden Jahren weiterhin nach Möglichkeiten suchen, netzpolitische Communitys in strukturschwächeren Ländern zu unterstützen. Denn ein zivilgesellschaftliches Netzwerk, das sowohl national als auch europäisch aktiv ist, hilft allen in Europa.
*Panoramafreiheit
Die Panoramafreiheit (auch Straßenbildfreiheit) ist eine in vielen Rechtsordnungen vorgesehene Einschränkung des Urheberrechts, die es jedermann ermöglicht, urheberrechtlich geschützte Werke, beispielsweise Gebäude, Kunst am Bau oder Kunst im öffentlichen Raum, die von öffentlichen Verkehrswegen aus zu sehen sind, bildlich wiederzugeben, ohne dass hierfür die Urheberin oder der Urheber des Werkes um Erlaubnis ersucht werden muss.
Weitere Infos
Atem für die Langstrecke. Ein Interview.
Wie hat die Digitalisierung beziehungsweise die Vernetzung der Gesellschaft Interessenvertretung und Lobbying verändert?
Auch im Bereich Lobbying hat die Digitalisierung – oder besser: die digitale Transformation – dazu geführt, dass die Rolle von Gatekeepern dramatisch an Bedeutung verloren hat. Wikipedia ist ein gutes Beispiel dafür. Früher gab es die traditionellen Gatekeeper in Verlagen und Redaktionen, die Enzyklopädien geschrieben haben. Deren Macht aber ist durch die Wissens-Communitys im Netz infrage gestellt – und solche Entwicklungen lassen sich in vielen Bereichen beobachten. Die Folge für das Lobbying ist, dass zumindest in der Theorie mehr Menschen Einfluss auf politische Entscheidungswege nehmen können, die früher keine oder kaum Möglichkeiten dazu hatten. Das ist eine klare Veränderung durch die digitale Transformation.
An welche Entscheidungswege denken Sie zum Beispiel?
An eine ganze Reihe von Online-Petitionen oder Volksbegehren, die früher so nicht funktioniert hätten. Nicht, weil die Themen damals keine Relevanz besessen hätten. Aber Beispiele wie die Volksbegehren „Deutsche Wohnen enteignen“, oder die Initiative gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes in Berlin zeigen, dass es heute rein technisch einfacher ist, größere Massen an Menschen im Netz zu mobilisieren – auch dank der dramatisch gesunkenen Gemeinkosten, die damit verbunden sind. Man muss keine Flyer mehr drucken, keine Kampagnenstände aufbauen. Stattdessen ist es möglich, in größeren Netzwerken zu kommunizieren und damit schnell und effektiv Unterstützung zu generieren. Masse – selbst simulierte Masse – ist eine wirksame Möglichkeit, Einfluss auszuüben. Das wissen wir aus dem klassischen Lobbying.
Handelt es sich dabei um flüchtigere oder fluidere Crowds im Vergleich zu analogen Zeiten, als Unterstützende mit mehr Aufwand mobilisiert werden mussten?
Ein faszinierendes, wenn auch nicht eins zu eins auf Deutschland übertragbares Phänomen sehen wir in den USA: Dort kann man mit allen Anliegen die eigene Kongressabgeordnete oder den eigenen Kongressabgeordneten anrufen. Da bietet sich eine interessante Kombination aus analogem und liquidem Lobbying an – Liquid Lobbying verstanden als dezentrales Netzwerk von ehrenamtlich Lobbyierenden. Nach allem, was man weiß, werden E-Mails von den Büros der Abgeordneten weitestgehend ignoriert. Telefonanrufe hingegen werden registriert und spielen eine wichtige Rolle bei der Erfassung der Meinung der eigenen Basis. Genau das lässt sich organisieren. Smartes Liquid Lobbying in den USA mobilisiert also analoge Telefonanrufe – mit den Mitteln der Crowd und des Netzwerkes.
Sie waren von 2009 bis 2014 Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland. Welche Herausforderungen lagen und liegen darin, eine Interessenvertretung für die Wikipedia-Communitys aufzubauen?
Lobbying – ob analog oder liquid spielt dabei keine Rolle – ist immer Langstrecke. Es ist komplexes Beziehungsmanagement, Beziehungsaufbau, immer wieder Nachhaken und Nachfassen, permanent im Gespräch bleiben. Und das funktioniert natürlich nur, wenn man eine gut geölte Organisation ist. Mir ist in den fünf Jahren als Geschäftsführer immer wieder positiv aufgefallen, wie leicht es für Wikimedia ist, ins Gespräch mit politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern zu kommen. Das hat viel mit der Arbeit der Ehrenamtlichen zu tun und dem guten Ruf, den die Wikipedia genießt. Vielen ist der Unterschied zwischen Wikimedia als Organisation und Wikipedia als Projekt kaum bewusst – aber das spielt keine Rolle, das Entscheidende ist das soziale Kapital, das durch die Wikipedia entstanden ist.
Welche Ressourcen verlangt Lobbying als Langstrecke?
Man muss dabei zwei Schritte unterscheiden. Der erste ist, initiale Aufmerksamkeit zu erreichen. Dafür gibt es im Netz Möglichkeiten, etwa, sich kurzfristig mit einer Hashtag-Kampagne ins Gespräch zu bringen. Allein die Tatsache, dass ein Thema im Netz Wellen schlägt, ist ja für analoge Medien – aber auch für politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger – relevant. #MeToo ist ein gutes Beispiel. Von den Missständen, die öffentlich gemacht wurden, konnte niemand ernsthaft überrascht sein. Aber durch die Kraft, die Direktheit, mit der die Betroffenen kommuniziert haben, ist eine Wirkung weit über das Netz hinaus erzielt worden. Bloß beginnt nach dem Aufmerksamkeits-Boom eben die Langstrecke, und die ist mühsam. Was es dafür braucht, das ist eine smarte Bündelung ehrenamtlicher Kräfte, die sich über den ersten Impuls hinaus organisieren und an Bord bleiben.
Was ja für viele schon am Zeitaufwand scheitert …
Deswegen kann es gerade den Ehrenamtlichen helfen, auch den Schulterschluss mit hauptamtlichen Strukturen zu suchen, seien es Stiftungen, seien es Vereine. Gerade bei Leuten, die sich engagieren wollen, wird oft unterschätzt, dass Lobbying mehr ist, als für eine gute Sache Gutes zu tun. Es braucht Techniken, Erfahrungen, auch die Kenntnis und Akzeptanz von Spielregeln, die nun mal herrschen. Das gilt auch für eine soziale Bewegung wie Fridays for Future, der es hervorragend gelungen ist, initiale Aufmerksamkeit zu erreichen. Aber um wirklich Veränderungen zu erreichen, müssen sich die Beteiligten eben langfristig an Lobbystrukturen beteiligen. Für die hauptamtlichen Strukturen wiederum ist es essenziell, die besondere Motivation, die Bedürfnislagen und die Anforderungen von ehrenamtlichen Strukturen nicht nur zu kennen, sondern zu respektieren und die eigene Arbeit entsprechend anzupassen.
Hat die Idee des Liquid Lobbying, wie es die Free Knowledge Advocay Group EU erprobt, auch in anderen Bereichen eine Zukunft?
Absolut. Wikipedia ist auch hier das beste Beispiel dafür, dass wir eine Aufgabe vollständig selbstorganisiert angehen können. Ohne Hierarchien, ohne Vorgaben, und in Verbindung mit hauptamtlichen Strukturen. Das macht Wikipedia einzigartig – aber auch zum Ansporn für Menschen, die sich anderen Aufgaben stellen wollen. Auch beim Klimawandel, bei der Pandemiebekämpfung, bei der Bekämpfung sozialer Ungleichheit und des globalen Hungers können und müssen wir nicht darauf warten, dass es die Politik für uns regelt, oder dass die Lobbyisten für uns streiten. Das gibt mir Hoffnung für die großen Herausforderungen, vor denen wir heute stehen.
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