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Politik im Netz

Zwischen Utopie und Realität: Gibt es Spielregeln, die in der Netzpolitik anders sind als in der klassischen Politik? Und wie steht es um die Wirkmacht der digitalen Zivilgesellschaft in der Politik?

  • Datenpolitik
  • Gemeinwohl
  • Open Data

Interview

  • Markus Beckedahl

Politik im Netz: Zwischen Utopie und Realität

Ein Interview mit Markus Beckedahl

Bietet die wachsende digitale Zivilgesellschaft eine Chance, auf dem politischen Spielfeld in den kommenden Jahren ein freies Netz zu erkämpfen – mit allen Fragen, die daran hängen?

Ein freies Netz, das auf gemeinwohlorientierten Prinzipien basiert, ist eine Utopie, für die wir kämpfen müssen und kämpfen sollten. Und ich hoffe, dass wir dieser Utopie gemeinsam ziemlich nahekommen werden. Es braucht mehr engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sich informieren, vernetzen, die gemeinsam für ihre und unsere Interessen eintreten und sich in gesellschaftliche und politische Debatten schlagkräftig einmischen.

Welche Debatten sind die dringlichsten?

Wo soll ich da anfangen? Seit vielen Jahren gibt es immer mehr Überwachungsgesetze. Alles deutet darauf hin, dass wir die Grenzen zum Überwachungsstaat, zur Überwachungsgesellschaft längst überschritten haben. Dagegen müssen wir ankämpfen, um auch weiterhin in Freiheit leben zu können. Das Urheberrecht ist immer noch nicht zeitgemäß. Daran hat auch eine Urheberrechtsreform nichts geändert, die vor allem den Status quo zementiert, viele Alltagspraktiken weiterhin kriminalisiert, beziehungsweise als Urheberrechtsverletzung deklariert. Es bräuchte dringend eine echte Reform, auch, um die Akzeptanz in der Gesellschaft zu steigern. Und schließlich haben wir seit Langem das Problem mangelnder IT-Sicherheit – damit einhergehend auch die fehlende Vermittlung von Digitalkompetenzen durch den Staat. Wir bräuchten konzertierte Aufklärungskampagnen, um mehr Menschen zu befähigen, souverän als sogenannte mündige digitale Bürgerinnen und Bürger im Netz agieren zu können.

Wenn wir ein Smartphone kaufen, nehmen wir an, die Digitalkompetenz sei im Lieferumfang enthalten.“

Markus Beckedahl

Sehen Sie dabei ausschließlich den Staat in der Pflicht?

Eigentlich sollte all das Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge sein. Von klein auf bekommen wir beigebracht, dass wir nach links und rechts gucken sollen, wenn wir über die Straße gehen. Früher gab es im Programm der Öffentlich-Rechtlichen die Sendung „Der 7. Sinn“, die den Bürgerinnen und Bürgern erklärt hat, wie sie sich im Straßenverkehr zu verhalten haben. Wenn wir dagegen ein Smartphone kaufen, nehmen wir an, die Digitalkompetenz sei im Lieferumfang enthalten. Dabei ist darin ein Fernsehsender eingebaut, die Leute können live drauflosstreamen – aber alle wundern sich, welche gesellschaftlichen Probleme wir mit der Digitalisierung haben. Das hängt zu einem Teil damit zusammen, dass wir alleingelassen werden. Natürlich verlangt dieses Thema nach einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung. Trotzdem ist es auch Staatsversagen, dass seit 20 Jahren die Politikerinnen und Politiker zwar in jeder Sonntagsrede die Wichtigkeit und Notwendigkeit von Digitalkompetenz betonen, aber sich Jahr für Jahr nichts davon in den entsprechenden Posten der Landes- und Bundeshaushalte niederschlägt.

Ist dieses Kompetenzproblem in erster Linie eine Generationenfrage?

Vor allem in der Vergangenheit wurde die Debatte um Digitalkompetenz ausschließlich auf die Schulen konzentriert. Das ist schön und gut. Aber 90 Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft gehen nicht mehr zur Schule, es sei denn, sie holen ihre Kinder ab. Wer denkt an die Lehrerinnen und Lehrer, die Kompetenz doch überhaupt vermitteln sollen? Ich glaube, dass Kinder und Jugendliche sich zu einem großen Teil peer-to-peer gegenseitig beibringen können, welche Stolperfallen man im Netz vermeiden sollte. Wohingegen ältere Menschen vollkommen alleingelassen werden – auch mit den Ängsten, mit denen sie vielfach an technische Fragen herangehen.

Es geht darum, die Utopien Realität werden zu lassen. Oftmals scheitert das einfach an Zeit und Geld.”

Markus Beckedahl

In welchem Ausmaß existiert überhaupt eine digitale Zivilgesellschaft? Ist das, was wir mit dem Begriff verbinden, teilweise auch ein gedankliches Konstrukt?

Die digitale Zivilgesellschaft gibt es. Sie ist ein Teilbereich der klassischen Zivilgesellschaft, und zwar jener Teil, der sich, aus dem Netz kommend, mit Themen der Digitalisierung auseinandersetzt. Ein blühendes Ökosystem, in dem Wikimedia Deutschland sicher einer der größten Player des deutschsprachigen Raums ist. Diese digitale Zivilgesellschaft hat sich auf der Grundlage ähnlicher sozial-technischer Netzsozialisationen entwickelt, getrieben von Werten, für die man eintritt: gemeinsam Arbeiten, gemeinsam Zugang zu Wissen schaffen, keinen Überwachungsstaat akzeptieren, gemeinwohlorientierte Infrastrukturen anstreben, aber auch selbst bauen – basierend auf Open-Source-Prinzipien in der digitalen Welt. Die klassische Zivilgesellschaft betreibt das im analogen Raum.

Gibt es Spielregeln, die in der Netzpolitik anders sind als in der klassischen Politik?

Netzpolitik ist ein Querschnittsthema. Und sie hat eine starke technische Komponente, die man immer mit berücksichtigen sollte. Das mag zwar in der Umweltpolitik nicht anders sein, auf bestimmten Gebieten. Aber in der Netzpolitik ist das ausgeprägter. Hier hängt alles mit der Regulierung von Technik zusammen, mit der Ermächtigung durch Technik. Und damit verbunden sind natürlich Fragen an die Politik: Warum gibt es nicht flächendeckend Makerspaces und Hackerspaces, die gefördert werden? Warum gibt es nicht mehr Plattformen, wo Menschen zusammenarbeiten können, wieso fehlt es generell an Förderung für engagierte Menschen mit guten Ideen für gemeinwohlorientierte Infrastrukturen? Es geht darum, die Utopien Realität werden zu lassen. Oftmals scheitert das einfach an Zeit und Geld. An Engagement mangelt es nicht.

Wikimedia-Salon “P=Politik im Netz. Wohin steuert die Digitale Agenda?” mit Saskia Esken, Konstantin von Notz und John Weitzmann

Weitere Infos:

Markus Beckedahl

Markus Beckedahl ist Gründer und Chefredakteur von netzpolitik.org, Mitgründer der re:publica sowie der newthinking communications GmbH. Er war Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu „Internet und digitale Gesellschaft“ und ist seit 2010 Mitglied des Medienrates der Medienanstalt Berlin-Brandenburg. Seit 2007 ist Beckedahl ehrenamtlicher Projektleiter bei Creative Commons Deutschland e. V.

Statement

  • Lorena Jaume-Palasí

Der Wald und die Einzelbaumregelung

Welche Strategien eine gemeinwohlorientierte und diskriminierungsfreie Datenpolitik braucht

Ein Statement von Lorena Jaume-Palasi

Gemeinwohl ist ein schwammiger Begriff, genauso wie Gerechtigkeit. Es fällt schwer, ihn zu definieren, obwohl alle zu wissen glauben, was damit gemeint ist. Die Auslegung ist divers, aber das ist zugleich Teil des Konzepts Gemeinwohl: Man kann anhand dieses Begriffs verschiedene Auffassungen verhandeln. Dadurch wächst und verändert sich das Verständnis. 

Die große Herausforderung ist, dass wir in den zentraleuropäischen Kulturen individualistisch ausgerichtet sind. Gemeinwohl ist aber keine individuelle Frage, sondern eine soziale. Man kann soziale Fragen nur schwer mit methodologischem Individualismus beantworten. Es ist ein sehr mechanistischer Ansatz, zu glauben: wenn man jedes einzelne Teil normiert, hat man dadurch auch das große Ganze geregelt. Ich ziehe gerne den Vergleich: den Wald durch Einzelbaum-Regelung normieren. Das funktioniert einfach nicht. Vielleicht tut man einem Stück des Waldes damit etwas Gutes. Aber der Wald ist mehr als die Summe aller Bäume. Dasselbe gilt für die Gesellschaft. Auch eine Gesellschaft ist mehr als die Summe aller Individuen und ihrer Einzelinteressen. Woraus folgt, dass wir einen anderen Blick auf das Gemeinwohl brauchen. Einen sozialen Blick. 


Gesellschaft benötigt ein Gleichgewicht zwischen individuellen und kollektiven Interessen. Das lässt sich auch auf die Bereiche Daten und Technologien anwenden. Auch hier sind wir – historisch bedingt – auf das Individuelle fokussiert. Wir verstehen Daten als Eigentum, als unsere privaten Daten. Aber so leicht ist es nicht. Daten sind – wie Sprache – das Ergebnis der sozialen Natur der Menschen. Daten entstehen innerhalb der kommunikativen Dimension einer Gesellschaft, die Artefakte konstruiert, mit diesen Artefakten Interaktion betreibt und Wirklichkeiten konstruiert. Diese Daten haben eine individuelle, aber auch eine soziale Dimension – weil sie in einer bestimmten Sprache verfasst sind, weil sie Sachverhalte abbilden sollen, in denen bestimmte gesellschaftliche Annahmen stecken, die wiederum gewissen Perspektiven Sichtbarkeit verleihen und andere verschleiern. Deswegen sind Daten über mich nicht automatisch Daten von mir.

„Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, das Digitale könne als eine rein individuelle Angelegenheit verstanden werden.“

Lorena Jaume-Palasí

Ein klassisches Beispiel: das Geburtsdatum. Natürlich ist es mein Geburtsdatum. Aber genau so ist es auch das Datum der Mutterschaft meiner Mutter und der Vaterschaft meines Vaters. So leicht kann ich dieses Datum nicht monopolisieren, denn es steht in einem relationalen Zusammenhang, über den ich nicht die absolute Deutungshoheit habe. Meine Mutter und mein Vater werden es benötigen, um ihr Rentenformular auszufüllen – sollen sie mich dann um Genehmigung bitten müssen? 

In der Praxisdimension sieht man allerorten, wie unsere Modelle einen Radikal-Individualismus fördern. Personalisierte Dienstleistung – das wird missverstanden als etwas komplett auf mich Angepasstes. Technisch stimmt das nicht. Technisch bedeutet das, dass ich in kleinere Schubladen, granularere Profile gesteckt werde. Aber das sind statistische Kategorien, in die auch sehr viele andere Menschen sortiert werden. Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, das Digitale könne als eine rein individuelle Angelegenheit betrachtet werden. 

Ein Beispiel dafür, wie es anders geht, ist die Plattform „Decidim“ in Spanien. Sie wurde von der Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, implementiert – als Reaktion auf ein Smart-City-Modell der Vorgängerregierung, das viele Menschen als Überwachungsinstrument empfanden. „Decidim“ hat den Bürgerinnen und Bürgern stattdessen ein Datencockpit angeboten, in dem sie selbst entscheiden konnten, für welche Zwecke in der Stadt sie ihre Daten freigeben – und für wie lange. 

Die Plattform hat sich mehr und mehr zu einem Tool entwickelt, mit dem die Menschen konstruktiv Politik gestalten konnten. Sie hatten die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, wo es bei ihnen brennt: von Verkehrslärm bis zu Luftverschmutzung. Durch diese Praxis haben sie verstanden, dass ihren persönlichen Daten eine Gemeinwohldimension innewohnt und was Datenteilung für eine Community bewirken kann.

„Wir verstehen nicht, dass Rassismus zwar individuell exerziert und erfahren wird, aber eine institutionelle Dimension hat.“

Lorena Jaume-Palasí

Ich werde in diesem Zusammenhang oft gefragt, wie Technologien und Algorithmen diskriminierungsfrei gestaltet werden können. Meine Antwort lautet: Gar nicht! Algorithmen werden immer diskriminieren. Denn genau das ist ihre Aufgabe. Diskriminierungsfreiheit im Sinne von gerechtigkeitsfördernden Maßnahmen – das ist nichts, was sich codieren lässt. Man kann Prozesse entwickeln, in die Kompensationsmechanismen eingebaut sind, in die algorithmische Systeme so einbettet werden, dass sie helfen, eine gerechtere, inklusivere Gesellschaft zu bauen. Letztendlich muss die Frage doch lauten: Wie können wir erreichen, dass Gesellschaften nicht diskriminieren? Gesellschaften werden immer diskriminieren. Es kommt auf den Punkt an, inwieweit sie Mechanismen entwickelt haben, um Diskriminierung zu adressieren, diese Fehler zu reflektieren und sie dann auch zu korrigieren. 

Eine Gesellschaft muss verstehen, was strukturelle Diskriminierung ist. Und daran hapert es aufgrund unserer methodologisch-individualistischen Herangehensweise. Wir verstehen nicht, dass Rassismus zwar individuell exerziert und erfahren wird, aber eine strukturelle und institutionelle Dimension hat. Unsere reflexhafte Reaktion ist: Streichen wir das Wort „Rasse“ aus dem Grundgesetz. Oder Kategorien, die Transmenschen ausgrenzen. Aber die Kategorien, durch die wir in Gesellschaften diskriminieren, werden sich im Laufe der Zeit verändern, weil sie sozioökonomische Asymmetrien widerspiegeln. Das heißt, wir werden niemals alle illegitimen Kategorien von Unterdrückung in der Verfassung abbilden können. Wir erleben auch Diskriminierung aufgrund von Tätowierungen, wegen der Kleider, die jemand trägt, oder wegen der Form des Körpers. Und in der Regel ist Diskriminierung intersektional: Sprich, aufgrund verschiedener Zuordnungen (z. B. weiblich, trägt Nasenpiercing, schwarz). All das kann darüber entscheiden, ob jemand einen Job bekommt oder nicht. Aus ethischer Perspektive sage ich: Das ist ungerecht. Aber rechtlich sind manche der oben erwähnten Kategorien nicht abgebildet, und Intersektionalität als diskriminierende Zusammenführung von verschiedenen Kategorien zu definieren, wird dem nicht gerecht. Wir wissen, dass verschiedene Zuschreibungen und sozio-ökonomische Faktoren bei Diskriminierung zusammenkommen, aber sie lassen sich schwer auseinanderdividieren und gewichten, weil Diskriminierung nicht als relationaler Prozess verstanden wird. 

Wir werden nur dann inklusiver, wenn wir einen sozialen Blick auf das Konzept der Ausgrenzung werfen und den Fokus auf solche Prozesse legen, die gesellschaftliche Asymmetrien stetig identifizieren, adressieren und kompensieren.

Weitere Infos:

Lorena Jaume-Palasí

Lorena Jaume-Palasí ist Gründerin der gemeinnützigen Organisation The Ethical Tech Society,  die das Ziel verfolgt, Prozesse der Automatisierung und Digitalisierung zu erforschen und in Bezug auf ihre gesellschaftliche Relevanz normativ einzuordnen. Jaume-Palasí forscht zur Ethik der Digitalisierung und Automatisierung, befasst sich in diesem Zusammenhang auch mit rechtsphilosophischen Fragen und wird dazu regelmäßig von internationalen Organisationen, Verbänden und Regierungen konsultiert.