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Reproduktion

Kulturerbe-Institutionen beginnen sich zu wandeln: Sie fragen sich verstärkt, welche Perspektiven sie erzählen und was Dekolonisierung von Kulturgut für sie bedeuten würde. Heute geht es beim Thema Zugang durch Digitalisierung aber auch darum, Fortschreibungen des Kulturerbes und einen Austausch zwischen den Generationen zu ermöglichen. Erleben wir einen Mindshift?

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Interview

  • Nora Al Badri

Wem gehört die Kunst?

Ein Interview mit Nora Al-Badri

Viele Kulturerbe-Institutionen beginnen sich verstärkt zu fragen, welche Perspektiven sie erzählen, welche Sichtweisen sie ausblenden und was Dekolonisierung von Kulturgut für sie bedeuten würde. Erleben wir einen Mindshift?

Es gibt auf jeden Fall ein ausgeprägteres Bewusstsein in der Gesellschaft und dadurch auch mehr Druck auf die Institutionen. Aber strukturelle Änderungen, die echten Wandel herbeiführen könnten – zum Beispiel die Bereitschaft, Fragen von Besitz neu zu denken – sehe ich in Deutschland und auch in Europa kaum. Es gab in Frankreich durch den von Emmanuel Macron in Auftrag gegebenen Restitutions-Report einen Impuls, in dessen Folge auch einige Objekte an die Herkunftsländer zurückgegeben wurden. Aber was wir nicht gesehen haben, weder im Louvre noch in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, ist ein Umdenken in größerem Stil. Im Gegenteil. Vielfach wird die Öffnung von Datenbanken aktiv verhindert. Das ist nicht mehr zeitgemäß und nicht mehr legitim.

Digitalobjekte besitzen eine große Wirkmacht und können Diskurse in Gang setzen – die Reproduktion ist kein Sklave des Originals.”

Nora Al-Badri

Welche Rolle spielt Digitalisierung in diesem Prozess des Umdenkens? Und welche sollte sie spielen?

Inzwischen leben wir im postdigitalen Zeitalter, das heißt, es stellt sich ohnehin die Frage, inwiefern das Originalobjekt noch gebraucht wird. Nicht jeder Mensch kann jedes Museum auf der Welt besuchen. Natürlich ist es eine tolle User Experience, spontan eine digitale Sammlung in Peru zu besuchen und sich die Objekte nebst Objektbiografien anschauen zu können. Aber auch in meiner künstlerischen Praxis schaue ich vor allem auf das emanzipatorische Potenzial von Digitalisierung.

Worin liegt dieses Potenzial?

Damit meine ich, dass Künstlerinnen und Künstler, aber auch Menschen aus den Herkunftsländern der Objekte, sich die Objekte und ihre Geschichten digital aneignen und damit umgehen können. Fakt ist auch, dass von großen Sammlungen teilweise nur ein Bruchteil ausgestellt wird. Entsprechendes Potenzial hat Digitalisierung als Archiv und Sichtbarmachung von Sammlungen – nicht zuletzt, wenn es um die Frage von Raubkunst und Restitution geht. Man kann nichts zurückverlangen, von dessen Aufenthaltsort man nichts weiß. Digitalobjekte besitzen eine große Wirkmacht und können Diskurse in Gang setzen – die Reproduktion, die digitale Kopie ist kein Sklave des Originals. Das hat auch mein Projekt „The Other Nefertiti“* gezeigt. Die Kehrseite ist, dass viele Museen daraus ableiten, Digitalisierung mache die Restitution überflüssig. Ein Trugschluss.

Auf welche Weise sollten Institutionen ihre Datensätze veröffentlichen?

Es gibt eine Praxis von Museen, Datensätze nur zum Anschauen freizugeben, aber nicht zum Herunterladen und Remixen. Das reicht eben nicht. Auch das ist ein Versuch der Institutionen, die Kontrolle zu behalten, was in diesem Kontext überhaupt nicht angebracht ist. Weil die Ursprungsfrage – wem gehört das Originalobjekt? – bei Weitem noch nicht geklärt ist. Ein weiterer wichtiger Punkt: Wenn es um die Digitalisierung von ethnografischen oder archäologischen Objekten geht, muss man in die Herkunftsländer schauen. Es gibt zum Beispiel einige indigene Protokolle, die den Digitalisaten von heiligen oder spirituellen Objekten die gleiche Kraft zusprechen wie dem Original. Auch da stellt sich die Frage: Wer entscheidet, was gescannt und was veröffentlicht wird?

Sie sprechen im Kontext Ihrer Arbeit von „Techno Heritage“ – was ist damit gemeint?

Das ist ein künstlerisches Konzept. Häufig, wenn wir über Sammlungen und Kulturerbe reden, bleibt der Blick in die Vergangenheit gerichtet. Was ich für relevanter halte: Wie die Vergangenheit mit der Gegenwart und vielleicht weniger kolonialen Zukünften verknüpft ist. Dadurch, dass ich Objekte zu Techno Heritage erkläre, versuche ich, diese Fragen aufzuwerfen.

“Es doch schon, wenn ein einzelner Mensch aus dem Amazonasgebiet ein digitalisiertes Objekt aus seiner Region in einer Sammlung des Globalen Nordens entdeckt, es beforschen und vielleicht Ansprüche stellen kann.”

Nora Al-Badri

Mit Ihrem Projekt „Fossile Futures“ haben Sie die Digitalisierung des Brachiosauraus-Skeletts im Berliner Museum für Naturkunde betrieben. Welche Fragestellung an Kulturerbe stand dahinter?

Dieser Brachiosaurus ist auf seine Art auch ein Fall von Raubkunst, nur dass es sich eben um ein fossiles Artefakt handelt. In Tansania werden die Saurierknochen als eben solche heiligen Objekte angesehen. Die Herkunfts-Communitys sind nicht glücklich damit, dass heute 230 Tonnen Knochen in Deutschland verweilen und hier ausgestellt werden. Tendaguru – der Hügel, wo die Funde gemacht wurden – war für sie ein spiritueller Ort, der dadurch seinen Wert verloren hat. Ein anderes Werk von mir heißt „Babylonian Vision“, dabei geht es um Objekte aus Mesopotamien, insbesondere des heutigen Irak, die in den größten Sammlungen des globalen Nordens zu finden sind. Ich habe die Webseiten der entsprechenden Museen gescraped, also automatisch alles heruntergeladen. Das Projekt legt den Fokus auf digitale Technologien, speziell auf Künstliche Intelligenz (KI).

Wo ist der Link zwischen Kunst und KI?

Es gibt KI, die zum Beispiel mit Millionen Porträts noch lebender Menschen trainiert werden, teilweise auch im akademischen Kontext, was dann aber Firmen wie Google nutzen. Die KI lernt, wie sich ein Gesicht zusammensetzt, und kann die Bilder nicht nur remixen, sondern komplett neue Gesichter schaffen. Das könnte in Zukunft beispielsweise für Deep Fake eingesetzt werden – Videos, in denen etwa Politikerinnen und Politikern Sätze in den Mund gelegt werden. Die Technologie heißt „General Adversarial Networks“, eine neue Form von Bildgenerierung. Dieses Prinzip habe ich auf die babylonischen Objekte übertragen, um darauf hinzuweisen, was möglich ist. Man braucht eine kritische Masse an Input – und dadurch lernt das Programm, was das Wesen der Bilder ist. Auf dieser Basis kann es sie nicht nur reproduzieren, sondern tatsächlich neue Formen schaffen.

Im Kulturerbe-Bereich wächst das Infragestellung von Besitzansprüchen an und Deutungshoheit über Kunst. Was können speziell Open Data und Citizen Science dazu beitragen?

Natürlich sind Potenziale vorhanden, wenn Menschen gestalten und remixen können, das sollte aber nicht überschätzt werden. Denn ansonsten landet man schnell bei einer Quantifizierung von Downloads, Cultural Big Data sozusagen. Dabei genügt es doch schon, wenn zum Beispiel ein einzelner Mensch aus dem Amazonasgebiet ein digitalisiertes Objekt aus seiner Region in einer Sammlung des globalen Nordens entdeckt, es beforschen und vielleicht Ansprüche stellen kann. Citizen Science, auch Demokratisierung von Sammlungen, verleiten zum Glauben, dass wir eine neue Masse suchten, eine andere Aufmerksamkeitsökonomie im digitalen Bereich.

Welche Fragen sollten sich die Institutionen im Kontext von Digitalisierung stellen?

Im Pergamonmuseum in Berlin steht eine Rekonstruktion des berühmten Ischtar-Tors aus babylonischer Zeit. Dass sich Menschen im heutigen Irak das digital anschauen können, führt erst mal zu nichts. Dahinter stehen ganz andere Fragen: Sollte das Tor überhaupt hier sein? Und falls ja, wer entscheidet darüber?

*The Other Nefertiti:

The Other Nefertiti“, auch „Nofretete Hack“ genannt, ist 2016 mit Jan Nikolai Nelles entstanden. Das Projekt war eine Intervention im Neuen Museum Berlin. Wir haben die Ikone Nofretete ohne Wissen des Museums gescannt und den 3-Druck zunächst in Kairo ausgestellt und später in der Wüste vergraben – als Techno Heritage, das in Zukunft von jemandem gefunden werden kann. 3-D-Drucke sind das zeitgenössische Kulturerbe für die Kunst. Sie hebeln auch die Diskussion aus: Wem gehört eigentlich das digitale Objekt? Das ist zwar eine wiederkehrende und wichtige Frage. Aber häufig geht es dabei um die Besitzansprüche von Nationalstaaten und Regierungen. Uns hat es mehr interessiert, die Debatte auf philosophischer Ebene in Schwung zu bringen: Wem gehört diese Kunst? Digitale Reproduktion bedeutet die Möglichkeit millionenfacher Vervielfältigung. In der Folge des Projektes haben jetzt etliche Menschen die Nofretete in ihrem Wohnzimmer stehen. Auch solche, die nicht ins Neue Museum gehen können, zum Beispiel aufgrund ihres Passes.

Weitere Infos:

Nora Al Badri

Nora Al-Badri ist eine multidisziplinäre Medienkünstlerin und Politikwissenschaftlerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Al-Badri hat im Viktoria and Albert Museums' Applied Arts Pavilion at La Biennale di Venezia, 3rd Design Biennal Istanbul, ZKM Karlsruhe, Ars Electronica etc. ausgestellt. Sie gibt regelmäßig Kurse und Vorträge an Universitäten und Museen auf der ganzen Welt, wie z. B. dem Warburg Institute und dem Central Saint Martins College London, an der Leuphana University Lüneburg, dem Mozilla Festival und vielen mehr.

Interview

  • Ellen Euler

Offener Zugang – Theorie und Praxis

Ein Interview mit Ellen Euler

Wo fehlt es gegenwärtig noch an digitalen Zugängen zu den Kulturerbe-Institutionen?

Zugang allein ist nicht alles. Zugang ist nicht der Kern von Open Access und Open Data. Selbst wenn man sich beispielsweise digitalisierte Gemälde ansehen kann wie im Museum, bleibt man Zuschauerin oder Zuschauer. Es geht doch aber darum, aus Zuschauenden Prosumerinnen und Prosumer* zu machen – zu ermöglichen, dass es Fortschreibungen des Kulturerbes gibt, einen Austausch zwischen den Generationen, dass Adaption, Wiederbelebung und Brauchbarmachung in der Gegenwart passieren können. Das ist im Digitalen insbesondere dann möglich, wenn man offene Schnittstellen, standardisierte Formate und freie Lizenzen hat, die ein Experimentieren zulassen, ein Arbeiten mit den Digitalisaten – und nicht nur die reine Reproduktion des Analogen ins Digitale.

Müssen vor allem rechtliche Hürden abgebaut werden?

Es ist noch nichts damit gewonnen, wenn die EU-Gesetzgebenden die nationalen Gesetzgeberinnen und Gesetzgeber dazu anhalten, sie mögen bitte dafür Sorge tragen, dass keine Rechte mehr am Digitalisat entstehen und mithin Gemeinfreies gemeinfrei bleibt. Wenn dann wiederum ein Museum an Fotografieverboten im Haus festhält, keine 3-D-Digitalisate über offene Schnittstellen bereitstellt und keine offenen Daten in guter Qualität über Plattformen anbietet – dann bleibt es bei der Theorie. Dann ist gemeinfreier Inhalt nicht frei nutzbar. Der Fehler beginnt dort, wo Kulturerbe-Institutionen mit Unternehmen gleichgesetzt werden, die einen Return on Invest realisieren sollen. Kulturerbe-Institutionen versuchen das mit der Lizenzierung von Bildmaterial zu erreichen, das für die Digitalwirtschaft interessant ist, wie z. B. historische Aufnahmen oder Gemäldereproduktionen.

Dabei wird häufig übersehen, dass hierfür ein immenser Aufwand betrieben werden muss, um diese Einnahmen zu generieren. Es bedarf eigenen Personals für die Vermarktung und auch geeignete digitale Infrastrukturen, die erst mal finanziert werden müssen, und auch die Rechteverfolgung bei Lizenzverstößen und sonstigen sogenannten Transaktionskosten sind zu berücksichtigen. Um das alles zu finanzieren, muss erst mal Geld in die Hand genommen werden – und unterm Strich rechnet sich dieses Lizenzgeschäft nicht.

Trotzdem wird es von der Politik befördert. Daran kann die Rechtesituation erst mal nichts ändern, denn auch Gemeinfreies lässt sich vermarkten. Es gibt Institutionen, die digitale Angebote machen und dafür Geld verlangen. Aber nicht für die Rechte, sondern für den Service. Das heißt: Ein Digitalisat, eine Reproduktion wird zur Verfügung gestellt – und dieser Service kostet. In den AGB steht dann, dass das Bild nicht weiter verwendet werden darf. Da kann es so gemeinfrei sein, wie es will. Wir müssen also nicht nur die rechtlichen Hürden abbauen, sondern vor allem die strukturellen. Wir brauchen die Bilder in den Wikimedia-Projekten. Wir brauchen sie in der Wikidata und in der Wikipedia. Sonst ist nichts gewonnen.

Wer sollte dafür Sorge tragen – die Politik?

Es braucht einen Bewusstseinswandel – eben nicht nur in den Institutionen, sondern auch in den Trägereinrichtungen, bei den Fördernden, in der Förderpolitik. Ich glaube, dass die Institutionen und die Mitarbeitenden grundsätzlich den Willen zum Wandel haben. Aber dafür braucht es auch Kapazitäten und Ressourcen. Wenn Institutionen die Ressourcen nicht haben oder diese unter dem Finanzierungsvorbehalt stehen, dass sie sich auch rechnen, können sie die digitalen Angebote nicht schaffen und auch nicht frei zur Verfügung stellen. Politik, Förderung und die Strategie der Einrichtungen müssen Hand in Hand gehen. Der Auftrag aus der Politik an die Institutionen müsste lauten: mit der Zivilgesellschaft gemeinsam für die Allgemeinheit Angebote zu schaffen. Er müsste lauten: Wikification.

*Prosumer

Alvin Toffler führte den Begriff 1980 in dem Buch Die dritte Welle (The Third Wave) für Personen ein, die zugleich Konsumenten als auch Produzenten des von ihnen verwendeten Produkts sind. Toffler sieht den Prosumenten als eine Person an, die ein Produkt oder eine Dienstleistung erzeugt und entwirft, um sie zu verbrauchen, also für den persönlichen Gebrauch.

[Quelle: Wikipedia]

Weitere Infos:

Ellen Euler

Ellen Euler hat seit 2017 eine Professur für Open Access und Open Data an der Fakultät für Informationswissenschaften der Fachhochschule Potsdam. Vorher war sie 6 Jahre lang im Management der Deutschen Digitalen Bibliothek tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der freie Zugang zu Wissen und Kultur über das Internet als Grundlage für digitale, transformative kulturelle Praktiken, Probleme des Informationsrechts, des Urheberrechts und der Rechtsinformatik.