Im Interview: Johanna Niesyto

Ich würde sagen, dass man sich am meisten darauf freuen kann, etwas zutiefst Sinnvolles zu tun und dafür Wertschätzung zu erhalten. Das ist erfüllend.
Johanna Niesyto

Johanna, war Wikimedia vor deiner Bewerbung komplettes Neuland für dich?

Jein, denn ich hatte zum Zeitpunkt meiner Bewerbung eher eine externe Sichtweise. Ich hatte meine Doktorarbeit über Wikipedia als Raum politischer Wissenskulturen geschrieben. Im Rahmen der Dissertation hatte ich unzählige Gespräche und Interviews durchgeführt, Diskussionsarchive durchforstet, Metatools getestet, an zwei Wikimanias teilgenommen, und war damals auch auf dem einen oder anderen Kölner Wikipedia-Stammtisch gewesen. Ohne diese tiefen Einblicke und ohne diese Menschen, die so offen und fundiert ihr Wissen geteilt haben, wäre meine empirische Untersuchung niemals möglich gewesen. Diese wunderbare Erfahrung hat später – nach meiner Zeit als Wissenschaftlerin – meine Entscheidung zu kandidieren ganz entscheidend geprägt. Ich wollte etwas zurückgeben und selbst Teil der Bewegung werden. Im Nachhinein war dieses Hintergrundwissen bestimmt für meinen persönlichen Onboarding-Prozess hilfreich, aber ich habe auch den Eindruck in der Startphase gewonnen, dass Wikimedia so oder so „Neulinge“ sehr gut an die Hand nimmt. Die Atmosphäre ist ausgesprochen kollegial und hilfsbereit. Eine echte Starthilfe war neben dem Präsidiumshandbuch im Wiki-Format die Tageshospitation in Berlin. In einem Rutsch habe ich einen Überblick über die einzelnen Bereiche und Teams in der Geschäftsstelle bekommen und konnte daran in der ganzen Amtszeit immer wieder zurückkommen. Und was auch echt toll ist: Jedes Präsidiumsmitglied hat ein Fortbildungsbudget zur Verfügung – sollte man also merken, dass man in einem Themenfeld noch schlauer werden will, ist das jederzeit möglich.

Welcher Schlüsselmoment ist dir aus deiner Zeit im Präsidium, Ende 2016 bis Ende 2018, in Erinnerung geblieben?

Der Anfang, weil er so intensiv und konzentriert war. Am Morgen nach der Wahl auf der Mitgliederversammlung stand bei der ersten konstituierenden Sitzung des Präsidiums schon die Frage eines neuen Interimsvorstands für den Verein im Raum.

Das war natürlich eine ganz besondere Situation, der sich das 5. Präsidium gegenüber sah. Es ging sofort mit einem sehr dichten und dringlichen Prozess los. Das war ein enorm temporeicher und spannender Start. Und schon bei diesem „Ausnahme-Start“ war klar, dass hier ein Team ist, das gemeinsam auch solche besonderen Herausforderungen meistern kann – das hat mir als Neuzugang sehr viel Zuversicht und Vertrauen geschenkt.

War das beängstigend oder hat dich das vitalisiert?

Definitiv vitalisiert! Es war eigentlich der beste Einstieg, den ich mir im Nachhinein vorstellen konnte, denn damit war die Flughöhe gleich glasklar. Die Themen wurden nicht kleiner, dafür etwas arbeitsteiliger: Ich engagierte mich im Präsidiumsausschuss „Mitglieder/Community“ und im Ausschuss „Strategie“. Im Mitgliederbereich hatten wir primär die Zukunft der Mitgliederversammlungen im Blick. Und beim Strategieausschuss ging es um Weichenstellungen mit internationaler Dimension: Wie kann sich Wikimedia Deutschland mittel- und langfristig zukunftsfest aufstellen? Welche Trendcluster müssen wir kontinuierlich im Blick behalten? Das waren Themen von hoher Relevanz, wie etwa gesellschaftlicher Wandel oder technologische Innovation. Die Lernkurve war steil und ich durfte mich mit finanziellen, organisationalen und strategischen Fragen jenseits des operativen Tagesgeschäfts beschäftigen. Mit diesen hatte ich mich zuvor in meinem Berufsleben aus reiner Mitarbeiter*innen-Perspektive eher punktuell oder aus der Rolle einer Beobachterin beschäftigt. Diese Aufsichtsrolle war also ein echter Perspektivwechsel und somit eine großartige Lernerfahrung.

Was machst du eigentlich hauptberuflich?

Ich bin 2011 zur Friedrich-Ebert-Stiftung gegangen, der ältesten politischen Stiftung in Deutschland. Dort war ich in der Studienförderung für die Öffentlichkeitsarbeit und interne IT-Projekte zuständig. Anfang 2016 bin ich dann in den Bereich „Medienpolitik“ gewechselt, den ich bis heute leite.

Hat dir die Arbeit in einem gemeinnützigen Verein wie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) bei deinem ehrenamtlichen Engagement im Präsidium geholfen?

Teilweise, ja. Wikimedia ist eine andere, viel jüngere Organisation. Der Verein zeichnet sich durch eine höhere Mitgliederorientierung aus und hat zugleich deutlich weniger Mitarbeiter*innen. Meine eigenen beruflichen Erfahrungen als FES-Mitarbeiterin waren in verschiedener Hinsicht hilfreich. Ich konnte gut abschätzen, welche Faktoren die Erfolgswahrscheinlichkeit von Strategien beeinflussen. Das hat mir geholfen, realistische Erwartungshaltungen zu setzen und nicht darauf zu bestehen, zu viele Dinge auf einmal anstoßen zu wollen. Ich würde also sagen, dass ich ein Verständnis für strategische Prozesse hatte.

Was für eine Geisteshaltung ist für das Präsidium deiner Meinung nach unverzichtbar?

Da fällt mir ein afrikanisches Sprichwort ein: „Wenn du schnell gehen willst, dann geh‘ lieber allein, aber wenn du weit gehen willst, dann geh‘ mit anderen.“ Ich denke, das bringt auf den Punkt, welche Haltung man mitbringen sollte. Man muss ein*e Menschenfreund*in sein, denn man arbeitet sehr intensiv in einer kleinen Gruppe an komplexen Themen mit spürbaren Konsequenzen. Außerdem braucht man eine gewisse Affinität für das „Big Picture“. Es geht nicht um alltägliches Mikro-Management, sondern um das große Ganze. Und in dem Zusammenhang ist es natürlich wichtig, die Welt mit wachem Blick zu sehen und zu erkennen, wie sie sich gesellschaftlich und technologisch verändert. Im Moment etwa steht die Welt auf dem Kopf wegen der Corona-Pandemie: Was heißt das für Freies Wissen, wie müssen wir uns bei Themen wie öffentlicher Medizin- und Gesundheitskommunikation engagieren? Mit wem müssen wir strategische Partnerschaften aufbauen oder verfestigen? Und vor allem: Welche Unterstützung brauchen wir von wem, um als Teil der digitalen Zivilgesellschaft in und jenseits von Krisenzeiten für eine verlässliche öffentliche digitale Infrastruktur zu sorgen? Ich denke, für solche strategischen Fragen muss man offen sein. Ausdauer und ein langer Atem sind natürlich mindestens genauso wichtig.

Warum hast du dich nicht weiter beworben?

Ich glaube, alles hat seine Zeit. Und meine Zeit bei Wikimedia stand auf einer wunderbaren Stufe in meinem Leben. Es war die Zeit, in der ich schwanger wurde, meinen Sohn bekam und in Elternzeit war. Ich hatte während dieser Phase den Rückhalt von meiner Familie und meinen Freund*innen, die mein Engagement bei Wikimedia mitgetragen haben. Auch haben das Präsidium und die Geschäftsstelle mir alles so familienkompatibel wie möglich gemacht. Nochmals tausend Dank dafür! Nach dem Wiedereintritt in den Job habe ich mich entschieden, nach dieser einzigartigen Zeit, mich auf anderen Wegen für Wikimedia zu engagieren. Wege, die noch mehr zeitliche Flexibilität erlauben.

Was empfindest du bei dem Gedanken an Deine Zeit im Präsidium?

Großes Glück, weil es so eine inspirierende und prägende Zeit war. An diese Zeit denke ich noch oft und gerne zurück. Deswegen empfinde ich auch eine Brise Wehmut, weil mir der Abschied wirklich nicht leicht gefallen ist. Die Idee des Freien Wissens ist eine Idee, die mich nach wie vor begeistert und für die ich mich sehr gerne engagiere. Wikimedia und ihre Projekte sind und bleiben für mich ein Wunder – sie gehören zu den wenigen nicht-kommerziellen, zivilgesellschaftlichen Orten im „plattformisierten“ Netz, für die es mehr denn je zu streiten gilt.

Worauf können sich aus deiner Perspektive Kandidat*innen am meisten freuen, wenn sie sich auf den Posten „ehrenamtliches Präsidiumsmitglied“ bewerben?

Ich würde sagen, dass man sich am meisten darauf freuen kann, etwas zutiefst Sinnvolles zu tun und dafür Wertschätzung zu erhalten. Das ist erfüllend. Worauf man sich ebenfalls sehr freuen kann, ist die große Wahlfreiheit. Jede*r kann für sich selbst entscheiden, welches der laufenden Themen man mit Herzblut mit und für Wikimedia verfolgen möchte. Auch das Arbeiten mit der Geschäftsstelle und dem Vorstand hat in meiner Zeit sehr gut funktioniert – man kann sich also auch auf ein gesundes Maß an Unterstützung freuen. Und vor allem kann man sich auf die vielen produktiven Reibungspunkte freuen, die immer dazu führen, dass angeregt und respektvoll diskutiert wird, und welche die gemeinsamen Erfolge umso erfüllender machen.

Welche Sorgen muss man sich nicht machen?

Man sollte sich nicht sorgen, dass man zu viel fragt – gerade am Anfang. Im Gegenteil! Offen zu fragen ist ein Zeichen von Engagement und erfährt entsprechende Anerkennung. Man sollte sich auch nicht sorgen, dass man eine falsche Entscheidung trifft, denn jede Entscheidung wird im Team gemeinsam und immer von einem positiven Ausgangspunkt gefällt: Freies Wissen zu stärken. Und vor allem sollte man sich niemals sorgen, dass man zu wenig macht – denn alles, was man freiwillig für Freies Wissen einbringt, ist bereits ein Wert an sich.